Gesundheitsschutz als Kaufkriterium
Braucht Gesundheitsförderung in Unternehmen ein extra Label, um bei Kunden damit zu punkten? Im Rahmen des GESIOP-Projekts schlägt ein Kieler Wissenschaftler einen anderen Weg zur Kennzeichnung „gesunder Arbeit“ vor.
21.11.2019
von Gerd Pfitzenmaier
Ob „bio“, „fair“, „vegan“ oder ein Aufkleber, der Käufer auf das „Tierwohl“ verweist: Siegel und Label auf Produkten, mit denen Hersteller am Markt um Kunden für ihre Waren werben, sind immer vielfältiger und differenzierter – und damit vermutlich für Verbraucher aber auch verwirrender. Wissenschaftler wie der Psychologe Sebastian Müller von der Christian Albrechts Universität zu Kiel (CAU) sind daher eher skeptisch. Er weiß, dass Konsumenten auf einem unübersichtlichen und komplizierten Informationsmarkt „allen Siegeln denselben Wert zuschreiben - oder sie als so genanntes Greenwashing ablehnen“. Müller schlägt Alternativen vor.
Zurzeit gibt es Überlegungen für ein neues, zusätzliches Produkt-Siegel. Es soll darüber aufklären, ob und wie Hersteller in ihren Unternehmen die Gesundheit ihrer Belegschaft und darüber hinaus auch jene der Beschäftigten in Unternehmen der Zulieferkette fördern. 74,9 Prozent der Befragten gaben bei einer nicht repräsentativen Umfrage der Verbraucher Initiative e. V. (Bundesverband) unter nachhaltigkeitsaffinen Konsumenten an, das Thema habe für sie hohe Bedeutung. Für 63,8 Prozent wäre dies demnach ein Kaufkriterium. "Viele Konsumenten wissen", sagt dazu VI-Geschäftsführer Georg Abel, "dass Gesundheitsschutz in einer alternden Gesellschaft und bei steigender Arbeitsbelastung eine wichtige Bedeutung hat."
Stärkung der Betrieblichen Gesundheitsförderung
Eine transparente Kommunikation gesundheitsrelevanter Unternehmensaktivitäten für die Optimierung der Mitarbeitendengesundheit sei notwendig, meint auch Müller. Ihr sprechen Arbeitsschutzexperten – während immer häufiger Mitarbeiter über Stress klagen oder sich mit Burnout krank melden – eine Stärkung der Betrieblichen Gesundheitsförderung zu. Dies trage zur „Optimierung der Mitarbeitergesundheit, verbesserten Kooperationsbeziehungen und einem möglichen Imagegewinn“ der Betriebe und ihrer Produkte bei.
Der Kieler Wissenschaftler bezieht in der Debatte um ein extra BGM-Label aber eine eigene Position. Gutes „Betriebliches Gesundheitsmanagement“ (BGM) müsse zwar sicher mehr sein, als lediglich die ökonomisch für Unternehmen selbstverständlich relevanten Zahlen der Krankheits- oder Unfallstatistik auszuwerten. Richtig verstandene und umgesetzte Gesundheitsförderung bringe Betrieben nachweisbare – durchaus auch wirtschaftliche – Effekte, erklärt der Forscher. Achte eine Unternehmensleitung darauf, dass die Mitarbeiter physisch und psychisch fit bleiben, mindere das längst nicht nur die Fehltage am Arbeitsplatz. Es bringe, stützt sich Müller auf mehrere wissenschaftliche Untersuchungen, wertvolle Vorteile:
- Verbraucher erhalten damit beim Einkauf zusätzliche Informationen, um sich bewusst für Produkte zu entscheiden, bei deren Herstellung die Gesundheit der Menschen, wertgeschätzt wird.
- Unternehmen verbessern die Bindung zwischen Beschäftigten und Betrieb. Sie senden – etwa in Zeiten des Fachkräftemangels – an potenzielle Bewerber positive Signale und kommunizieren ein zusätzliches Qualitätsmerkmal.
- Geschäftspartnern sichere die Kooperation in der Gesundheitsförderung die Stabilität ihrer Arbeitsbeziehung. Dies wirke sich auf die Qualität der Produkte aus und werde vom gemeinsamen Endkunden honoriert.Müller hat dazu geforscht. Er schlägt statt eines neuen, extra Labels einen anderen Weg vor.
Verwirrung durch Vielzahl und Unverständlichkeit von Siegeln
Sein Check brachte allerdings ein eher frustrierendes Ergebnis. Der Wissenschaftler prüfte gemeinsam mit der Verbraucher Initiative, wie gut Produktsiegel potenzielle Käufer darüber aufklären, ob und wie sich die Hersteller – neben der Einhaltung etwa von Bio-Standards, Umwelt- und Klimaschutzaktivitäten oder fairen Handelsbeziehungen - auch um die Gesundheit ihrer Beschäftigten und jener bei Partnerunternehmen in der Lieferkette kümmern. Er zieht nach drei Jahren Forschung ernüchternd die Bilanz: „Bezogen auf das unternehmerische Gesundheitsmanagement ist ein solcher Dialog nicht vorhanden.“
Vor diesem Hintergrund beschreibt die Kieler Studie eine – zumindest zurzeit noch – verpasste Chance. Müller plädiert nicht dafür, ein zusätzliches Label zu schaffen, selbst wenn dieses über Gesundheitsförderung bei der Herstellung informiere und damit Verbrauchern ein Unterscheidungskriterium für ihre Wahl bestimmter Waren liefere. „Mit Blick auf die destruktiven Effekte übersättigter und unverständlicher Siegelsegmente“, sagt er, würden Kunden und Kooperatioonspartner von Unternehmen damit eher verwirrt. Auch das nämlich erkannte der Wissenschaftler bei seinen Befragungen: Viele Verbraucher assoziieren heute etwa bei Bio-Labeln oder Siegeln des fairen Handels, dass diese die Gesundheitsförderung von Beschäftigten automatisch integrierten. Das jedoch, ergab sein Abgleich mit der Realität, ist bei genauerer Betrachtung oft ein Trugschluss oder stimmt lediglich partiell.
GESIOP-Tool für gesunde Arbeit
Sein Ansatz ist ein anderer: Er vergleicht in seiner Arbeit vielmehr die inzwischen am Markt vielfältig vorhandenen und um die Konsumentengunst konkurrierenden Label mit dem von seinen Kolleginnen und -kollegen an den Universitäten in Hamburg sowie der Technischen Universität München seit drei Jahren im Forschungsprojekt „Gesundheitsmanagement aus interorganisationaler Perspektive“ (GESIOP) erarbeiteten „GESIOP-Tool für gesunde Arbeit“. Es gilt als aktueller „Gold-Standard“ zur Beschreibung gesundheitsförderlicher Unternehmensstrukturen. Das inzwischen frei im Internet verfügbare Tool ermöglicht Unternehmen zum einen eine selbstständige Bewertung der eigenen betrieblichen Gesundheitsförderung anhand eines detaillierten Fragebogens selbst zu erstellen. Das dazu gehörende und ebenfalls im Netz zugängliche Handbuch gibt dann Ratschläge zur Verbesserung der Schwachstellen in der Struktur der betrieblichen Gesundheitsförderung im Unternehmen.
Die Überlegung des Wissenschaftlers zum Vergleich der bestehenden Label mit dem GESIOP-Tool: Sollten sich die Kriterien eines schon am Markt etablierten Siegels als hinreichend anschlussfähig erweisen, ist dessen Weiterentwicklung um die GESIOP-Kriterien möglich und wünschenwert. Mit diesem Ansatz erzielt Müller einen gleich doppelten Erfolg: Er schafft mehr Aufklärung über ein zurzeit noch selten bewusst verfolgtes Thema, ohne dabei jedoch Verbraucher am Markt mit zusätzlichen Kennzeichnungen zu verwirren. Zu viele Label – das etwa von der Verbraucher Initiative aufgebaute Portal „Label-Online.de“ verzeichnet und bewertet inzwischen rund 1.000 solcher an Kunden gerichteten Kennzeichnungen – bewirkten eher das Gegenteil ihrer eigentlichen Intention: Sie erzeugen Fragen anstatt Antworten zu geben.
Untersuchung der am deutschen Markt etablierten Label
Müller untersuchte daher, in wieweit am deutschen Markt etablierte Label oder Awards die Kriterien des GESIOP-Tools abbilden. Ergebnis: meist Fehlanzeige.
Einige wenige Siegel aber lassen erfolgversprechende Ansätze erkennen. Noch zwar läuft die Auswertung der gesammelten Daten. Zwischenergebnisse deuten aber schon an, dass die allermeisten Label über ein vorhandenes BGM in den Betrieben nichts oder nur wenig aussagen. Immerhin: Beim Abgleich der Kennzeichnungen mit dem GESIOP-Tool fand Müller einige mit einem Anpassungspotenzial. Das dickste Manko jedoch ist, dass nahezu alle etablierten Siegel keine Aussagen zu Kooperationen in der Gesundheitsförderung treffen. Ein Über-den-Tellerrand-Blicken scheint in der Wirtschaft (noch) eher nicht Usus zu sein. Unternehmen kümmern sich offensichtlich nicht - zumindest selten - darum, dass auch die Mitarbeiter ihrer Zulieferer gesunde Arbeitsbedingungen vorfinden.
Gesundheitsförderung der Mitarbeiter
Wie wichtig das Thema ist, hatten die Teilnehmer am GESIOP-Kongress in Berlin unterstrichen. Sich um die Gesundheit der Mitarbeiter zu kümmern, die immer häufiger über Stress bis hin zum Burnout klagen, bezeichnete der Arzt Prof. Dietrich Grönemeyer dort als „Zeichen der Wertschätzung für die Menschen mit denen wir arbeiten“. Als spiritus rector des Forschungsprojekts betonte die Hamburger Arbeitspsychologin Prof. Eva Bamberg zudem gerade den Wert von Kooperationen zur Gesundheitsförderung: zwischen Unternehmen und Beschäftigten ebenso wie zwischen Produzenten und Verbrauchern und auch zwischen den Beteiligten in den Betrieben in einer Herstellungs- und Lieferkette.
Das GESIOP-Projekt liefert dabei neben den wissenschaftlichen Erkenntnissen an gleich drei Universitäten zugleich die praktischen Beipiele, wie BGM vor Ort umgesetzt werden kann. Unternehmenspartner wie die Hamburger Hafen und Logistik AG, der Baur Versand oder der Lebensmittelhändler Tegut verfolgten mit konkreten Projekten, wie sich betriebliche Gesundheitsförderung im Einzelfall – für Beschäftigte, Kunden oder sogar Partner in der Region um den Unternehmenssitz – verbessern lässt.
Auch Sebastian Mülllers Befragungen holten solche Vorzeigebeispiele ans Tageslicht. In Unternehmen war er während der Arbeit an der Studie zum zurzeit noch eher stiefmütterlich behandelten Thema BGM immer wieder auf Mut machnde Beispiele gestoßen: Sie reichen von vertraglichen Vereinbarungen zwischen Partnerfirmen zur Zusammenarbeit bei der Gesundheitsförderung der jeweiligen Mitarbeitenden, bis zur Integration der Beschäftigten von Zuliefer- oder Leiharbeiterfirmen in bestehende firmeneigene Gesundheitsprogramme.
Das lässt hoffen, dass bald auch die Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz als Kaufkriterium in ein Label integriert und Kunden als Argument zur Wahl von Produkten dienen kann.