Coronakrise in den USA: „Survival of the richest”?
Aktuell wird viel darüber spekuliert, wie die US-Wirtschaft nach der Coronakrise aussehen wird und ob sich die allgemeine Annahme einer V-förmigen Konjunkturerholung bestätigen wird. Für die unteren Einkommensschichten ist die Entwicklung einfacher vorhersagbar – aber leider auch entmutigender.
07.05.2020
Denn ein wirtschaftlicher Einbruch hat in aller Regel einen längeren negativen Einfluss auf die Armutsstatistiken der USA als auf das BIP-Wachstum. Unabhängig von der Konjunkturentwicklung wird sich die Coronakrise noch auf Jahre hinaus in einer steigenden Quote von Essensmarkenempfängern niederschlagen. Daran werden auch Schecks der USAdministration nichts ändern – selbst, wenn sie von Präsident Trump unterschrieben werden.
Untere Einkommensschichten doppelt belastet
Obwohl die USA deutlich höhere Pro-Kopf-Ausgaben im Gesundheitswesen haben als alle anderen OECD-Länder, kommen die Leistungen bei einem großen Teil der Bevölkerung nicht an. Denn die medizinische Versorgung ist in den USA abhängig vom Einkommen und vor allem von geregelter Arbeit. Die Coronakrise wird deshalb die unteren Einkommensschichten in den USA doppelt treffen – nicht nur wegen drohenden Jobverlusts und fehlendem Sozialnetz, sondern auch aufgrund einer nicht ausreichenden beziehungsweise ungleichen gesundheitlichen Versorgung.
Bereits vor der Pandemie hatte ein großer Anteil der US-Bevölkerung Probleme, Rechnungen für Gesundheitsdienste zu bezahlen. Die Folge ist, dass viele Menschen gar nicht oder zu spät zum Arzt gehen. In einer Umfrage von Dezember 2019 bestätigten25 Prozent aller US-Bürger, dass sie oder ein Mitglied ihrer Familie medizinische Hilfe für eine schwere Krankheit aus Kostengründen verschoben haben. Rund 27,5 Millionen Menschen, und damit circa acht Prozent der Bevölkerung der USA, haben keine Krankenversicherung – Tendenz steigend. Angesichts dessen verwundert es nicht, dass die USA im Vergleich zu anderen OECD-Ländern die höchste Rate an vermeidbaren Todesfällen aufweisen
Dank eines im historischen Vergleich niedrigen Zahlungsverzugs bei Immobilienkrediten besteht zumindest für Immobilieneigentümer (circa 65 Prozent aller US-Haushalte) die Möglichkeit, über eine Refinanzierung ausreichende Überbrückungsliquidität sicher zu stellen (aufgrund steigender Immobilienpreise und sinkender Zinsen). Für Haushalte mit schwacher Zahlungshistorie (so genannte sub-prime-Kreditnehmer) besteht diese Möglichkeit nicht. So wird die Sterberate infolge von Corona bei den unteren Einkommensschichten deutlich stärker ansteigen als bei Besserverdienern. Auch wird sich die Ungleichheit der Einkommen weiter erhöhen.
Schockeffekte haben einen langen Einfluss auf untere Einkommensschichten
Die zunehmende Einkommensungleichheit in den USA ist bekannt. So erzielen die reichsten fünf Prozent der US-Haushalte fast ein Viertel des Einkommens aller Haushalte. Das Wirtschaftswachstum der letzten Jahre war nur begrenzt effektiv darin, US-Bürger aus den unteren Einkommensschichten besser zu stellen beziehungsweise die Anzahl der Bürger ohne Krankenversicherung zu reduzieren. Allein auf den Trickle-Down-Effekt des Wirtschaftswachstums zu setzen war demnach nicht ausreichend, um die sich öffnende Schere zwischen Reich und Arm in den USA zu schließen. Dies zeigt sich besonders deutlich an der Anzahl der Empfänger von Essensmarken. Deren Bevölkerungsanteil ist infolge der Finanzkrise von 2009 deutlich angestiegen, ging aber trotz anhaltend robusten Wachstums in den Folgejahren nur moderat zurück. Selbst über zehn Jahre später blieb die Quote im Jahr 2019 mit knapp unter elf Prozent deutlich höher als vor der Finanzkrise. Größere Konjunkturschocks wie die Ölkrise Anfang der 1970er-Jahre oder die Finanzkrise hatten nicht nur eine stark ansteigende Anzahl von Essensmarkenempfängern zur Folge, sie haben auch zu einem fundamental höheren Niveau ihres Anteils an der Bevölkerung geführt. Eine ähnliche Entwicklung wird die Coronakrise verursachen. Sie wird unweigerlich die Ungleichheiten in der US-Gesellschaft beziehungsweise die Armutsrate weiter und vor allem nachhaltig nach oben treiben.
Empirische Analysen der IKB deuten darauf, dass die Auswirkungen eines Konjunkturschocks auf den Anteil der Essensmarkenempfänger deutlich länger anhalten, als es bei der BIP-Entwicklung der Fall ist. Hier sorgen keynesianische
Stützungsmaßnahmen von Geld- und Fiskalpolitik seit der großen Depression zeitnah für Entlastung. Ein Wachstumseinbruch hat deshalb in der Regel einen nur kleinen und schnell abflachenden Einfluss von maximal zwei bis drei Jahren auf die BIP-Entwicklung. Dies steht im deutlichen Gegensatz zur Dynamik beim Anteil der Essensmarkenempfänger. Hier ist der Einfluss eines Konjunkturschocks noch nach mehreren Jahren deutlich erkennbar. Während also US-Fiskal- und Geldpolitik der US-Wirtschaft relativ schnell zurück zur Normalität verhelfen, kommt diese Politik hingegen bei unteren Einkommensschichten nicht an
Um den Einfluss eines Konjunkturschocks auf die unteren Einkommensschichten zu begrenzen, sind demnach Gegenmaßnahmen notwendig. Es reicht nicht aus, den Schock „auszusitzen“. Denn selbst in konjunkturellen Wachstumsphasen erholt sich der Arbeitsmarkt meist nur graduell. Ähnliches gilt für den Lohn der unteren Einkommensschichten. Beides verhindert schnelle positive Aufholungseffekte nach einem Konjunkturschock. Für untere Einkommensschichten könnte die Coronakrise deshalb mehr an die große Depression Anfang der 1930er-Jahre erinnern als an die Finanzkrise.
Wie schlimm könnte es kommen?
Selbst ein im Vergleich zu aktuellen Prognosen eher moderater BIP-Rückgang in den USA im Jahr 2020 von circa vier Prozent wird die Quote von Essensmarkenempfängern im aktuellen Jahr – aber auch in den Folgejahren – deutlich nach oben bewegen. Viele US-Bürger werden infolge der Coronakrise in die Armut rutschen. Auch wenn ein Aufholeffekt beim BIP-Wachstum in den Folgejahren stattfindet wird – die IKB geht von sieben Prozent Wachstum in den Jahren 2021 und 2022 aus –, deuten Schätzungen vor allem für dieses und nächstes Jahr auf einen deutlichen Anstieg des Anteils der Essensmarkenempfänger. Da sich die Anzahl der Erwerbslosen, die einen wichtigen Treiber der Essensmarkenquote darstellen, nur langsam verringern wird, ist selbst im Jahr 2022 von einer ansteigenden Anzahl betroffener Menschen auszugehen. Über 20 Millionen Menschen könnten dann zusätzliche Empfänger von Essensmarken sein. Deren Anteil an der Bevölkerung würde demnach auf einen neuen Höchststand von über 16 Prozent ansteigen – und dies nicht nur kurzfristig, sondern vor allem in den Folgejahren der Krise. Dies wären über 50 Millionen US-Bürger. Nicht berücksichtigt in dieser Rechnung ist die gesundheitliche Komponente der Coronakrise – also Menschen, die infolge von Krankheiten beziehungsweise fehlendem Zugang zum Gesundheitswesen in die Armut rutschen.
Wenn Präsident Trump davon spricht, dass die US-Wirtschaft intakt sei und relativ schnell wieder hochfahren kann, so denkt er sicherlich nicht an die unteren Einkommensschichten. Sie werden von der Krise nachhaltig belastet werden. Nötig wären bewusste und weitreichende soziale Maßnahmen, um die Folgeeffekte der Krise zu mildern. Aufgrund der aktuellen Wirtschaftspolitik ist jedoch zu befürchten, dass die Coronakrise die Ungleichheit in der US-Einkommensverteilung weiter verschärft und ein immer größerer Anteil der US-Bevölkerung marginalisieren wird – selbst bei einer V-förmigen Entwicklung des BIP-Wachstums . Angebracht wäre eine Politik, die den Trickle-Down-Effekt erhöht. Mehr Sozialausgaben sind in diesem Kontext sinnvoller als Steuergeschenke oder einmalige finanzielle Handouts.