Das Virus, das es gar nicht gibt?
Was wohl schlimmer sei, das Corona-Virus oder die Angst davor, so fragte man sich in dem jüngsten stratum-Newsletter. Aufhänger war ein Statement des Mediziners Abdu Sharkawy, der erklärt hatte: „Die Corona-Panik ist gefährlicher als das Virus selbst“.
24.03.2020
Sharkawy habe weniger Angst vor Corona als vor dem Verlust der Vernunft: „Was ich fürchte, ist der Verlust der Vernunft und die Welle der Angst, die die Gesellschaft in Panik versetzt und dazu bewegt, obszöne Mengen an Vorräten einzulagern, die einen Luftschutzbunker in einer postapokalyptischen Welt füllen könnten.“
Es gab viele Reaktionen auf diesen Newsletter, mehr zustimmende als ablehnende, was an sich schon bemerkenswert ist. Die Zustimmenden zeigten sich zum Beispiel „erschüttert über die überbordende Angst und die freiwillige Aufgabe von Grundrechten“ oder fanden es „wohltuend“, einmal eine andere „Ausrichtung“ der Beschäftigung mit der Virus-Pandemie zu lesen. Die ablehnenden wunderten sich unter anderem darüber, den Newsletter-Schreiber „im Lager der Corona-Leugner zu finden“.
Kann man Corona wirklich leugnen? Sind die Fakten nicht auf dem Tisch, ähnlich wie beim Klimawandel?
Der französische Wissenschaftshistoriker und -soziologe Bruno Latour („Die Hoffnung der Pandora“) hat die Behauptung aufgestellt, die Mikroben habe es vor Pasteur, der sie bekanntlich entdeckt hat, gar nicht gegeben. Dieser radikal historische Ansatz ist von konstruktivistischen Erkenntnistheoretikern rezipiert worden, die darauf verweisen, dass es für uns gar keine „objektive“ Welt gebe, sondern wir immer darauf angewiesen seien, uns unsere Welt mit den Möglichkeiten unserer Sinne, unseres Gehirns und unserer sozialen Bedingungen selbst zu generieren. Natürlich gibt es außerhalb von uns etwas, aber dieses Etwas entsteht erst, indem aus auf uns stößt und wir daraus eine Realität erzeugen. (Vergleichbar auch das Buch von Richard Häusler, „Erfundene Umwelt“, oekom, 2004.)
Das ist eine verstörende Erkenntnis, weil sie die Spannung zwischen Fakten und Wahrheit erzeugt, in der wir ständig leben und die eine zentrale Herausforderung unserer zivilisatorischen Entwicklung zu sein scheint. Wir mögen Fakten haben, aber damit haben wir noch keine Wahrheit. Um urteilen und handeln zu können, benötigen wir mehr als Fakten – nämlich Motive, Bewertungen, Gefühle, Gemeinschaft et cetera.
Das zeigt sich derzeit kaum besser als in unserer Auseinandersetzung mit der Corona-Pandemie. Auch hier wird die „Wahrheit“ immer erst produziert, die Faktizität des Erregers alleine kann das nicht. Und diese „gemachte“ Wahrheit ist höchst emotional, interessegeleitet und natürlich auch manipulativ. Wenn das Magazin „Der Spiegel“ den Leiter des Robert-Koch-Instituts in furchteinflößender Pose und vor dämonisch wirkendem Hintergrund mit einem Zitat montiert, das auf Angstmache aus zu sein scheint, dann ist dies der soziale Entstehungsprozess des Virus.
Die manipulative Absicht ist in diesem Fall für uns leicht erkennbar, wenngleich sie Wirkung zeigen dürfte. Dass „bis zu zehn Millionen Infizierte“ normal und auch nicht weiter bedrohlich sind, da eine Durchseuchung von 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung erwartbar und der Verlauf der Corona-Infektion eher mild ist, geht unter in der Inszenierung.
Weniger offensichtlich, aber ebenso wirksam ist die soziale Produktion von Wirklichkeit im Falle des Corona-Virus, wenn es um den Umgang mit Zahlen geht. Der Bonner Virologe Hendrik Streeck erklärt die Unterschiede zwischen den Todesraten, die zwischen Deutschland und Italien festgestellt wurden, mit den methodischen Unterschieden beim Zählen: „In Italien hat man nur die sehr schwer symptomatischen Fälle getestet. Dabei hat die aktuelle Studie aus Shenzhen zum Beispiel auch herausgefunden, dass sich Kinder genauso häufig mit dem Erreger anstecken wie Erwachsene, sie entwickeln allerdings nur leichte oder gar keine Symptome. Folgt man der Studie und legt zugrunde, dass 91 Prozent Covid-19 nur mit milden oder moderaten Symptomen durchmachen, dann haben sich die Italiener zunächst nur auf die verbliebenen neun Prozent fokussiert. Hinzu kommt, dass dort auch nachträglich die Toten auf Sars-CoV-2 getestet werden. Auch in China gingen anfangs die Todeszahlen stark in die Höhe, nicht aber die Infektionszahlen, weil man sich dort ebenfalls auf die Toten konzentrierte. Jetzt ist es umgekehrt, weil in China viel mehr getestet wird.“
Unser Umgang mit der Corona-Pandemie lässt sich also in keiner Weise auf Basis von „Fakten“ erklären.
Die Politik steht vor dem Dilemma, agieren zu müssen, ohne Panik zu erzeugen. Sie muss, das wird auch in Talkshows so zugegeben, unter Unsicherheit entscheiden, also tentativ und möglicherweise sich selbst korrigierend. Auch die Virologen haben Wissenslücken über das Virus. Niemand weiß, wie lange Zeit (Wochen, Monate) zum Beispiel die Strategie des „Flatten the Curve“ wirklich benötigen würde. Dennoch flimmern eindrucksvolle Diagramm-Animationen über die Bildschirme, die beruhigen und motivieren sollen.
Das belastet die Menschen, die Gewissheit haben wollen, und ihrer Angst ausgeliefert sind – sozialpsychologisch gesehen also mit „Terror-Management“ (S. Solomon, J. Greenberg, T. Pyszczynski) beschäftigt sind. Tatsächlich geht es zum weitaus größeren Teil wohl gar nicht um die Eindämmung des Virus, sondern um die Interessen und Bedürfnisse all der Akteure, die im Spiel sind. Jeder Akteur hat eine andere Perspektive und „Wahrheit“. Und in dieser Gemengelage „entsteht“ das Virus erst und immer wieder aufs Neue. Manchmal wirkt das so, als ob es es gar nicht gäbe, sondern nur die ganze Aufregung darum herum.