Urteil des BVerfG: Klimarevolution mit Schwächen
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit einem regelrechten Paukenschlag die vermutlich weitestgehende Entscheidung gefällt, die bislang ein oberstes Gericht weltweit zum Klimaschutz gemacht hat.
20.05.2021
Von Professor Felix Ekardt
Der deutsche Gesetzgeber muss die Klimaziele nach 2030, die im deutschen Klimaschutzgesetz verankert sind, deutlich stärker konkretisieren. Und er muss das verbleibende Treibhausgas-Budget fair zwischen den Generationen verteilen. Letzteres zwingt zu deutlich ambitionierteren Klimazielen – und vor allem Maßnahmen – schon vor 2030.
Erstmals war in Deutschland eine Verfassungsklage auf mehr Umweltschutz erfolgreich. Entschieden wurde dabei über vier Verfassungsbeschwerden. Die erste wurde 2018 von Einzelklägern wie dem Schauspieler Hannes Jaenicke, dem Energieforscher Volker Quaschning und dem Ex-CSU-Abgeordneten Josef Göppel gemeinsam mit dem Solarenergie-Förderverein Deutschland (SFV) und Friends of the Earth Germany (BUND) erhoben (vertreten durch die Rechtsanwältin Franziska Heß und mich). Der SFV hatte die Klage durch Aufträge für Rechtsgutachten an mich seit 2010 vorbereitet (die wiederum auf meiner Habilschrift von ursprünglich 2002 beruhen, jetzt aktualisiert kürzer auf Englisch).
Die Verfassungsbeschwerde stieß 2018 in Politik, Jurisprudenz und Medien fast einhellig auf Skepsis. Als sie im August 2019 – für viele überraschend – vom Verfassungsgericht zur Entscheidung angenommen wurde, änderte sich des Bild. Es folgten nun im Januar 2020 weitere Verfassungsbeschwerden, unter anderem von Aktivistinnen von Fridays for Future und Menschen aus Bangladesch, unterstützt von weiteren Umweltverbänden.
I. Verfassungsgericht und modernes Freiheitsverständnis
Das BVerfG folgt in zentralen Punkten der von uns vertretenen ersten Beschwerde. Es ändert damit in wesentlichen Hinsichten seine Rechtsprechung, ohne dies jedoch zuzugeben. Die Entscheidung zeigt:
- Verfassungsklagen auf mehr Umweltschutz können erfolgreich sein, und zwar ohne dass der (fast unmögliche) Nachweis geführt werden müsste, dass jede einzelne existierende Klimaschutzregelung letztlich untauglich ist.
- Es gibt ein Grundrecht auf Klimaschutz. Die Grundrechte schützen dabei auch die intertemporale und grenzüberschreitende Freiheit und ihre elementaren Voraussetzungen, nicht nur die Freiheit hier und heute (Rn. 175 und 182 ff.). Das ist ein Meilenstein für das Recht.
- Es gibt ein Grundrecht auf das ökologische Existenzminimum.
- Eine Grundrechtsbetroffenheit besteht auch, wenn wie beim Klimawandel sehr viele betroffen sind (Rn. 110). Auch das ist ein Bruch mit der bisherigen Logik des deutschen Rechts.
- Der Sache nach – ohne es zu sagen – wird endlich das Vorsorgeprinzip auf die Grundrechte angewendet (Rn. 129 ff.). Es kommt also nicht allein darauf an, ob hier und heute der Beschwerdeführer bereits verletzt ist; es sind auch kumulative, unsichere und langfristige Grundrechtsbeeinträchtigungen denkbar. Dies ist überzeugend, weil die Grundrechte bei drohenden irreversiblen Schäden sonst leer laufen. Genau das erkennt auch das Verfassungsgericht.
- Es geht mit dem Klimaschutz um die Freiheitsrechte insgesamt (Rn. 127), und zwar in zweifacher Hinsicht: Sowohl der Klimawandel als auch der Klimaschutz sind für die Freiheit relevant. Für den Aspekt „Freiheitsschutz vor dem Klimawandel“ hatten wir dem Gericht sowohl eine Argumentation über das Recht auf die elementaren Freiheitsvoraussetzungen Leben, Gesundheit und Existenzminimum als auch eine Argumentation über die Freiheit insgesamt in Verbindung mit dem Staatsziel Umweltschutz (Art. 20a GG) angeboten. Das Gericht folgt in eigener Diktion letztlich der zweiten Linie, erwähnt allerdings den unterstützenden Charakter der ersten Linie.
- Dass Art. 2 Paris-Abkommen letztlich auf dem Weg ist, ein verfassungsrechtlich gebotener Mindeststandard zu werden, und zwar mit dem Bemühen der Begrenzung auf 1,5 Grad, nicht nur auf deutlich unter 2 Grad, folgt teilweise unserem Argument, dass schon jetzt mindestens die 1,5-Grad-Grenze geboten ist (Rn. 235). Das Gericht erkennt zutreffend, dass das Paris-Abkommen nicht mehr von „zwei Grad“ spricht – und dass die Staaten versuchen müssen, 1,5 Grad einzuhalten, wie sich aus dem Wortlaut des Artikels 2 ergibt. Emissions-Neutralität wird dabei zum verfassungsrechtlichen Gebot.
- Politik muss den aktuellen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zugrunde legen. Das bedeutet, dass die Tatsachen sorgfältig ermittelt werden müssen, auch wenn diesbezüglich Lücken bestehen (womit das BVerfG in früheren Entscheidungen oft sehr lax war).
- Das Gericht statuiert: Heutige Generationen greifen in die Freiheitsrechte zukünftiger Generationen ein, indem sie sich bis 2030 zu viele Treibhausgasemissionen zugestehen: Das Klimaschutzgesetz hat Reduktionslasten in unzulässiger Weise auf die Zukunft verschoben. Die Ziele für die Zeit nach 2030, letztlich wegen des bis dahin schon aufgebrauchten Budgets aber auch schon vor 2030 müssen deutlich nachgeschärft werden. Dies greift in eigenen Worten unseren Ansatz der Grenzen des Abwägens auf, die der Gesetzgeber beachten muss.
- Das Parlament muss alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen. Das hat es nicht getan. Auch insoweit haben wir Recht bekommen. Diesbezüglich und bezüglich der Emissionsreduktionspfade (siehe soeben) muss der Gesetzgeber bis Ende 2022 nachbessern.
- Klimaschutz kann nicht einfach im Ausland oder durch riskante Geoengineering-Ansätze u.ä. erbracht werden (Rn. 226 f.).
- Jeder Staat muss seinen fairen Anteil übernehmen (Leitsatz 2c).
Dass die gesamte deutsche Politik über dieses Urteil jubelt, ist bemerkenswert und zugleich grotesk: Denn die Schriftsätze von Bundesregierung und Bundestag aus dem Prozess dokumentieren, dass sie die Klage massiv ablehnten und keinesfalls begrüßten.
II. Schwächen des Urteils
All das schließt nicht aus, dass die Entscheidung auch erhebliche Schwächen hat:
- Das Verfassungsgericht greift den Ansatz des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) und – darauf aufbauend – des Sachverständigenrats für Umweltfragen der Bundesregierung (SRU) auf, die die Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze in Treibhausgas-Budgets berechnen. Die Schwächen des IPCC-Budgets, das als Ergebnis eines Konsensgremiums mit optimistischen Annahmen (etwa zur Klimasensitivität) arbeitet, werden vom Gericht übergangen. Ebenso übergangen werden rechtliche Kritikpunkte am IPCC-Budget, das ja als Konkretisierung einer Rechtsnorm gedacht ist, nämlich des Artikels 2 Absatz 1 des Pariser Klima-Abkommens. Diese Norm ist rechtsverbindlich, wie das Gericht selbst voraussetzt (das ergibt sich etwa aus Artikel 3 und 4 Absatz 1 des Paris-Abkommens). Dann aber genügt es nicht, die 1,5 Grad nur mit 67% Wahrscheinlichkeit anzustreben, wie es der IPCC tut. Ferner bezieht sich Artikel 2 des Paris-Abkommen auf den Vergleich zum vorindustriellen Niveau. Dafür kann man aber nicht wie die vom IPCC zugrunde gelegten naturwissenschaftlichen Studien als Basisjahr ein Jahr in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wählen. Denn die Industrialisierung begann schon etwa 1750. Das Gericht äußert insoweit fälschlich (Rn. 223), wir hätten eine solche Kritik nie geäußert. Selbst das SRU-Budget als Weiterentwicklung des IPCC-Budgets reicht deshalb nicht aus für Art. 2 Abs. 1 Paris-Abkommen. Es fällt für Deutschland zwar kleiner aus, als es aus den IPCC-Daten für Deutschland sonst häufiger geschlussfolgert wird. Doch liegt das allein an der (rechtlich allerdings überzeugenden) Weichenstellung, dass der SRU den Menschen in Deutschland pro Kopf nicht mehr Emissions-Rechte zugesteht als etwa Menschen in Afrika (der IPCC legt sich dazu nicht fest).
- Der Umgang des BVerfG mit der doppelten Freiheitsgefährdung kann nicht befriedigen, weil die größere Gefahr für die Freiheit der Klimawandel und nicht eine radikale Klimapolitik ist. Beim BVerfG liest es sich teilweise eher umgekehrt. Dazu trägt auch bei, dass das Gericht neben seinen Klimaschutzanforderungen aus den Freiheitsrechten insgesamt in Verbindung mit Artikel 20a GG gleichzeitig betont, dass das Recht auf Leben und Gesundheit allein die Klage nicht trage (Rn. 182 ff.). Die von uns, neben dem Ansprechen der Freiheitsrechte insgesamt und des Artikels 20a, geäußerte Kritik an diesem überholten Verständnis ignoriert das BVerfG vollständig. So kommt es in der Entscheidung zu einem kuriosen Kompromiss: Einerseits gibt es jetzt ein Grundrecht auf mehr Klimaschutz, andererseits wird dieüberholte restriktive Lehre von der Schutzdimension der Grundrechte beibehalten. Dabei wird verkannt, dass das Grundgesetz die abwehrende und die schützende Dimension in Artikel 1 Absatz 1 Satz 2 und in Artikel 2 Absatz 1 als gleichrangig anspricht. Ferner wird immer noch übersehen, dass es bei Schutz-Klagen nicht um einen „Anspruch auf Gesetzgebung“ geht. Es geht vielmehr wie bei Abwehrklagen nur darum, durch eine gerichtliche Feststellung eine äußere Grenze zu ziehen – also „so jedenfalls nicht“, nicht „tu genau das“. Unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung unterscheiden sich beide Dimensionen der Grundrechte daher nicht. Für die Freiheitsrechte insgesamt und den Artikel 20a erfasst das Gericht das richtig – es müsste jedoch auch für das Recht auf die elementaren Freiheitsvoraussetzungen Leben und Gesundheit gelten.
- Beim Gesundheitsschutz benennt das Gericht ernsthaft auch Anpassungsmaßnahmen in weiten Teilen als zulässige Strategie (Rn. 169 ff.), obwohl allein schon wegen drohender Klimakriege u.ä. diese wohl kaum mit der Emissionsvermeidung auf einer Stufe stehen.
- Zuletzt wird übergangen, dass die meisten Emissionen nicht durch Deutschland allein, sondern durch EU-Gesetzgebung geregelt sind. Deshalb hatten wir explizit beantragt festzustellen, dass Deutschland auf EU-Ebene nicht ausreichend zugunsten des Klimaschutzes tätig geworden ist. Darauf ist das BVerfG nicht eingegangen. Es wird in der weiteren Umsetzung des Urteils aber eine zentrale Rolle spielen.
III. Politische Konsequenzen
- Eine Änderung des Klimaschutzgesetzes für Zeit ab 2031 reicht nicht. Es muss auch das Budget bis dahin gerechter verteilt werden. Erste Signale der Bundesregierung gehen dahin, dass die Ziele nun tatsächlich nachgeschärft werden.
- Ob die Nachschärfung auch für Maßnahmen geschieht, ist bislang offen. Eine Änderung des Klimaschutzgesetzes allein reicht jedoch nicht, denn ohne Umsetzung sind Ziele sinnlos. Auf den Prüfstand gehören damit sämtliche Gesetze etwa des Energierechts und des Agrarrechts.
- Wichtiger und wirksamer wären indes Änderungen auf EU-Ebene, also eine nicht mehr bremsende, sondern antreibende Rolle Deutschlands in der EU. Denn rein deutsche Lösungen sind nicht nur ökonomisch oft problematisch unter dem Gesichtspunkt der Wettbewerbsfähigkeit. Sie sind vor allem ökologisch oft suboptimal, weil sie räumliche und sektorale Verlagerungseffekte begünstigen. Sinnvoll wäre etwa eine Integration aller fossilen Brennstoffe in den EU-Emissionshandel, verbunden mit einer Streichung aller Altzertifikate und einem Cap null bis spätestens 2035 (wissenschaftlich eher sogar 2030). Die EU-Kommission wird dieses und nächstes Jahr ohnehin Vorschläge in dieser Richtung vorliegen. Die Rolle, die die alte und neue Bundesregierung dort spielt, dürfte wichtiger sein als die Änderung deutscher Gesetze.
- Hintergrund der geplanten EU-Rechtsakte sind die neuen EU-Klimaziele für 2030. Diese weisen in die gleiche Richtung wie das Gerichts-Urteil. Damit entsteht von zwei Seiten Druck auf eine deutlich andere deutsche – und europäische – Klimapolitik. Das ist auch nötig. Denn wenn das Paris-Abkommen zeitnahe Nullemissionen nahelegt, dann impliziert das null fossile Brennstoffe bei Strom, Gebäuden, Mobilität, Landwirtschaft, Kunststoffen und Zement – und eine stark reduzierte Tierhaltung (ergänzt durch einige ungefährliche Maßnahmen für Negativ-Emissionen durch Forst- und Moor-Management zur Kompensation von Residual-Emissionen aus Industrie und Landwirtschaft). Gemessen daran liegt noch ein weiter Weg vor der EU und Deutschland.
- Auch im Rahmen der geltenden Gesetze wird sich das Urteil auf die Auslegung des Rechts auswirken, etwa im Bergrecht und im Naturschutzrecht.