Corporate Governance und Nachhaltigkeit – what’s next?
Die Europäische Kommission macht ernst: Viele Gesetze regeln künftig unternehmerische Verantwortung. Wollen wir das wirklich alles überwachen, oder setzen wir auf Selbstkontrolle?
08.06.2021
von Dr. habil. Birgit Spießhofer M.C.J. (New York Univ.); RAin / Europe Chief Sustainability & Governance Counsel, Dentons Europe LLP; Privatdozentin Universität Bremen
Die Europäische Kommission hat für das zweite Quartal 2021 den Entwurf einer Richtlinie für nachhaltige Unternehmensführung (Sustainable Corporate Governance) und nachhaltige Lieferketten (Sustainable Supply Chains) angekündigt. Komplettiert wird das Gesetzgebungspaket durch eine Novellierung der Richtlinie über die nicht-finanzielle Berichterstattung. Diese gesetzgeberische Initiative ist im Kontext des European Green Deal und des (COVID-19) Recovery Plan zu sehen und hat zum Ziel, Nachhaltigkeit noch stärker in der Unternehmensführung zu verankern.
Nachhaltige Unternehmensführung verlangt grundsätzlich, dass Unternehmen ihre Auswirkungen auf die Umwelt (einschließlich Klima und Biodiversität) und auf soziale, menschenrechtliche und ökonomische Aspekte, kurz ESG (Environment, Social, Governance), in ihre Strategie integrieren und bei ihren Geschäftsentscheidungen berücksichtigen. Sie sollen eine langfristige nachhaltige Wertschöpfung statt kurzfristiger Gewinnmaximierung anstreben und die Interessen aller Stakeholder als Teil ihrer Verpflichtung zur Förderung des Unternehmensinteresses berücksichtigen.
Die im Februar dieses Jahres abgeschlossene Konsultation der EU-Kommission umfasste klassische Themen der Corporate Governance wie die einer Nachhaltigkeit fördernden Vorstandsvergütung. Ein besonderer Schwerpunkt lag jedoch auf dem Thema der nachhaltigen Lieferketten (Sustainable Supply Chains). Corporate Governance wird mithin weit verstanden und über den Binnenbereich der Unternehmensführung hinaus auf eine Verantwortung für Wertschöpfungsketten ausgedehnt. Dies ist nichts grundsätzlich Neues, gibt es doch seit langem im Soft Law, insbesondere in Gestalt der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte und der OECD Leitsätze für Multinationale Unternehmen, umfassend verstandene Verantwortungskonzeptionen, die eine Sorgfaltspflicht für die Lieferkette vorsehen. Für spezielle Sachverhalte wie Konfliktmineralien hat die EU bereits eine Lieferkettenverantwortung im Verordnungswege eingeführt (VO (EU) 2017/821). Nun soll die unternehmerische Verantwortung und Sorgfaltspflicht auf jede Art von Wertschöpfungsketten ausgedehnt werden.
Der zuständige EU-Kommissar Didier Reynders ließ in öffentlichen Erklärungen keinen Zweifel daran, dass die EU-Kommission eine weitreichende Lieferkettenregulierung anstrebt, die mit harten Durchsetzungsmechanismen und Sanktionen, insbesondere einer Schadenersatzhaftung, flankiert werden soll. Das Europäische Parlament hat bereits einen Richtlinienvorschlag zu Sustainable Corporate Governance unterbreitet, der eine sehr weitgehende Sorgfaltspflicht praktisch aller Unternehmen hinsichtlich ihrer Wertschöpfungsketten vorsieht.
Soft Law gleich „freiwillig“ ignoriert?
EU-Kommission und Europäisches Parlament begründen die Notwendigkeit einer umfassenden und harten Regulierung damit, dass die „freiwilligen“ Ansätze, insbesondere auf internationalem Soft Law basierend, nicht den gewünschten Erfolg gezeitigt hätten. Zudem müsse Rechtssicherheit und ein „level playing field“ für alle Unternehmen geschaffen werden.
Ob die Annahme mangelnden Erfolges von Soft Law zutreffend ist, darf hinterfragt werden. Die Gleichsetzung von Soft Law mit „freiwillig“ ignoriert, dass dieses Soft Law, das für sich in Anspruch nimmt, den „Standard erwarteten Verhaltens“ zu definieren, die Unternehmen unter einen immensen öffentlichen Druck setzt. Die „Courts of public opinion“, der moderne Pranger, sind in Zeiten des Internets sehr effizient – und es gibt praktisch keinen Rechtsschutz dagegen. Der Druck kommt von vielen Seiten, von Investoren, Financiers, der Peer Group, Geschäftspartnern und Ratingagenturen, die mit ihren jeweiligen Mitteln ESG-Vorstellungen durchzusetzen versuchen. Zudem kennt das Soft Law eigene Durchsetzungsmechanismen, sei es, dass es die Standards für nicht-finanzielle Berichterstattung vorgibt, die im Verkehr übliche Sorgfalt für deliktische Haftungstatbestände definiert oder in Gestalt der OECD Nationalen Kontaktstellen in vielen Ländern gerichtsähnlich ausgestaltete Gremien etabliert, die die OECD Leitsätze für multinationale Unternehmen als transnationale Rahmenordnung für verantwortungsvolle Unternehmensführung verbindlich auslegen und anwenden und zugleich kulturellen Differenzen und sachlichen Herausforderungen flexibel Rechnung tragen können.
Sieht man die Realität vieler Unternehmen und ihre Entwicklung in den letzten Jahren, so ist ihr Fortschritt bei der Implementierung von ESG und damit die Wirksamkeit des Soft Law unverkennbar. Es hat ein Experimentierfeld für die Entwicklung und Durchsetzung transnationaler ESG-Standards eröffnet. Allerdings sind auch die Probleme manifest geworden.
Erstens sind die „Erwartungen“ der Stakeholder mitnichten kohärent. Unterschiedliche Ratingagenturen, Investoren, NGOs und Geschäftspartner nutzen verschiedene Regelwerke und Benchmarks und formulieren unterschiedliche Erwartungen.
Zweitens gibt es praktische Herausforderungen. Wenn ein multinationales Unternehmen allein 50.000 bis 100.000 First-Tier-Lieferanten hat, sind diese nicht in kurzer Zeit hinsichtlich ihrer ESG-Performance zu erfassen, von den dahinter liegenden Lieferketten ganz zu schweigen. Das Unternehmen hat den vertraglichen oder (bei Konzernunternehmen) den gesellschaftsrechtlichen Zugriff regelmäßig nur auf den unmittelbaren Lieferanten. Hinsichtlich der mittelbaren Lieferanten gestaltet sich das Lieferkettenmanagement deutlich schwieriger.
Drittens sehen sich Unternehmen, die Mitglieder verschiedener Lieferketten sind wie typischerweise Anwaltskanzleien, durchaus unterschiedlichen Anforderungen ihrer jeweiligen Kunden gegenüber, die ein erhebliches Compliance-Management erfordern. Dies können sich meist nur größere Unternehmen leisten, die kleineren werden eliminiert.
Viertens machen ESG-affine Unternehmen die Erfahrung, dass sie bei der Umsetzung ihrer Nachhaltigkeits- und ESG-Politik in Drittländern an Grenzen stoßen. Die Regierung von Bangladesh untersagte beispielsweise die Tätigkeit des europäischen Textilbündnisses Accord, weil sie deren Standardsetzung und -durchsetzung bei den Textillieferanten als Eingriff in ihre Souveränität ansah. China hat erstens eigene, auf dem Konfuzianismus beruhende Vorstellungen über verantwortungsvolle Unternehmensführung („Harmonious Business“) und ist zweitens nur begrenzt bereit, eine umfassende Überprüfung chinesischer Lieferunternehmen zuzulassen. Mit diesen Dilemmasituationen stehen die Unternehmen weitgehend allein.
Kann vor diesem Hintergrund eine „harte“ europäische Regelung zu nachhaltiger Unternehmensführung mit weitreichenden extraterritorialen Wirkungen hinsichtlich der Wertschöpfungskette die erstrebten Ziele, die Schaffung von Rechtssicherheit und eines „level playing field“ für alle Unternehmen, wirklich erreichen – ohne neue Probleme zu schaffen und bereits bestehende Dilemmasituationen zu zementieren? Die Antwort des Juristen ist: Es kommt darauf an.
UK Modern Slavery Act versus Loi de vigilance
Es gibt im Grunde zwei unterschiedliche Regelungsansätze, für die paradigmatisch der UK Modern Slavery Act (2015) einerseits und das französische Loi de vigilance (Loi n° 2017-399 du 27 mars 2017 relative au devoir de vigilance des sociétés mères et des entreprises donneuses d’ordre) andererseits stehen.
Der UK Modern Slavery Act (2015) definiert spezifische menschenrechtliche Tatbestände, die der Sklaverei, Leibeigenschaft sowie der Zwangs- und Pflichtarbeit, und unterwirft sie klaren strafrechtlichen Sanktionen. Die in Sec. 54 des UK Modern Slavery Act geregelte Berichtspflicht gilt hinsichtlich Sklaverei und Menschenhandel weltweit. Sie erfasst Unternehmen, die im Vereinigten Königreich Geschäfte tätigen und selbst oder mit Tochterunternehmen einen weltweiten Umsatz von 36 Millionen Pfund erreichen. Die Unternehmen sollen die ergriffenen Maßnahmen darstellen, mit denen sie sicherstellen, dass moderne Formen der Sklaverei in all ihren Lieferketten und Geschäftsbereichen vermieden werden. Allerdings können sie auch angeben, dass sie keine Maßnahmen ergreifen. Der Gesetzgeber verlässt sich darauf, dass zivilgesellschaftliche Organisationen die Überwachung und Durchsetzung durch name-and-shame-Kampagnen übernehmen. Der Secretary of State soll alles Nähere in einem Praxisleitfaden regeln, der regelmäßig weiter ausformuliert und fortgeschrieben wird. Der Regelungsansatz kombiniert mithin einen eindeutig definierten menschenrechtlichen Tatbestand mit klaren Sanktionen für das Unternehmen selbst mit einer entwicklungsoffenen und flexiblen Berichtspflicht hinsichtlich der weltweiten Lieferkette, die durch Zivilgesellschaft und Secretary of State weiter ausformuliert wird, das heißt eine Kombination von Hard und Soft Law, von Rechtssicherheit bei den Unternehmen selbst mit einer Lieferkettensteuerung, die den jeweiligen Gegebenheiten angepasst werden kann.
Demgegenüber statuiert das französische Loi de vigilance eine Sorgfaltspflicht zur Erarbeitung und wirksamen Umsetzung eines Überwachungsplans, der sich auf alle Konzernunternehmen und gefestigten Geschäftsbeziehungen erstreckt. Die Sorgfaltspflicht umfasst „die Menschenrechte und Grundfreiheiten, die Gesundheit und Sicherheit der Menschen und die Umwelt“. Klarere Konturen gibt das Gesetz den Schutzgütern nicht. Der Conseil Constitutionnel erklärte die Bußgeldvorschriften wegen Unbestimmtheit für verfassungswidrig. Im Übrigen, insbesondere hinsichtlich der Schadenersatzpflicht, hielt er jedoch das Gesetz aufrecht. In Anbetracht der Weite und Unbestimmtheit der Sorgfaltspflicht ist jedoch weder Rechtssicherheit noch ein „level playing field“ zu erreichen, und zwar weder für die adressierten Unternehmen noch für die Lieferanten und sonstigen Unternehmen in der Lieferkette, die mit unterschiedlichen „Übersetzungen“ der Sorgfaltspflicht konfrontiert werden. Dilemmasituationen wie die oben angesprochenen wurden nicht berücksichtigt.
Es stünde zu hoffen, dass die EU-Kommission dem UK Modern Slavery Act-Vorbild folgt. Wahrscheinlich ist es indessen nicht.