„Ein neues Betriebssystem für unsere Gesellschaft entwickeln“
Wie können wir die Digitalisierung für eine Neugestaltung der Demokratie nutzen? Damit beschäftigt sich Geraldine de Bastion. Die Mitbegründerin des Beratungsunternehmens Konnektiv ist außerdem Mitglied im Zukunftskreis des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und berät mit weiteren Expertinnen und Experten im Rahmen der Strategischen Vorausschau disziplinübergreifend über Zukunftstrends. Teil drei unserer Interview-Reihe.
16.04.2021
Frau de Bastion, Sie kuratieren Impulse unterschiedlicher Menschen auf Digitalkonferenzen und sind als internationale „Vernetzerin“ der Maker- und Gründerszene unterwegs. Welche Perspektiven bringen Sie aus Ihrer Arbeit in den Zukunftskreis ein?
Geraldine de Bastion: Einerseits vertrete ich zivilgesellschaftliche und aktivistische Perspektiven in den Bereichen Netzpolitik, Menschenrechte und Digitale Innovationen. Zugleich bin ich selbst Unternehmerin, beschäftige mich daher auch aus Sicht des Mittelstands mit den Folgen der Digitalisierung. Ich arbeite daran, die Sichtweisen möglichst unterschiedlicher Himmelsrichtungen und Disziplinen für unsere Beratungen anschlussfähig zu machen – von Philosophinnen und Philosophen bis zu Engagierten aus der Maker- und Hackerszene.
Tools und Formate für ein digitales „Demokratie-Update“ sind technisch durchaus verfügbar – welche Voraussetzungen braucht es, damit möglichst die gesamte Öffentlichkeit partizipiert und profitiert?
de Bastion: Unterschiedliche Faktoren müssen zusammenkommen, damit Technologie wirklich demokratiefördernd wirkt. Ein Aspekt ist, dass die Plattform, die wir nutzen, oder die Tools, derer wir uns bedienen, im Einklang mit unserer hiesigen sozialen Werteordnung funktionieren. Da geht es um die Funktionslogik und das Geschäftsmodell der Plattformen, aber auch um die Menschen dahinter – diejenigen, die den „Code“ schreiben. Leider ist es heute vielfach so, dass hinter den maßgeblich genutzten Plattformen andere Werteordnungen stehen. Im Ergebnis werden populistische Tendenzen oftmals sogar noch verstärkt.
Eine weitere Voraussetzung ist die Frage des Zugangs. Meine feste Überzeugung: Digitalisierung muss nicht zwangsläufig auf ausschließliche Kommunikation in digitalen Räumen hinauslaufen. Was ich damit meine, kann ich vielleicht an einem Beispiel aus Ruanda verdeutlichen: Dort ist es gang und gäbe, seine Steuererklärung digital abzugeben. Kioske auf der Straße, in Bibliotheken oder an weiteren öffentlichen Plätzen sorgen dafür, weniger digitalaffinen Gruppen oder Menschen, denen aus wirtschaftlichen Gründen der Zugang zu digitalen Angeboten fehlt, bei der Steuererklärung zu helfen. Sowas kann ich mir auch hier bei uns vorstellen. Wenn sich immer mehr Kommunikation und soziale Praxis ins Digitale verlagert, muss man zeitgleich dafür sorgen, Menschen, die aus gesundheitlichen, demografischen oder Akzeptanzgründen bislang nicht partizipieren, Teilhabemöglichkeiten zu bieten.
Digitalisierung erleichtert zwar Information und Transparenz, andererseits gab es milieuübergreifend selten so viel Misstrauen gegenüber der Politik wie in den letzten zehn Jahren – ein Widerspruch oder lässt sich das zusammen erklären?
de Bastion: Hier wirken nach meiner Einschätzung verschiedene Dynamiken. Zunächst greift das bereits vielfach beschriebene Phänomen der Filterblase. Die Informationsflut ist einerseits sehr groß, im gleichen Maße schlägt jedoch das Gefangensein in bestimmten Blasen durch. Da gibt es also schon einen Widerspruch – zwischen der Vielfalt an Informationen und der Art, wie wir diese nutzen. Das muss aber nicht so bleiben! Wir sollten an einem neuen Verhältnis zwischen Bürgerinnen und Bürgern und Staat arbeiten: Derzeit dominiert vielfach noch ein Über-Unterordnungsverhältnis. Dieses Obrigkeitsverständnis erhält unter anderem durch Verschwörungsmythen Nahrung und setzt sich fest. Wenn wir dem mit integrierenden Prozessen entgegenwirken, werden sich noch viel mehr Menschen als Teil dieses Staates, als Menschen, die Einfluss haben, begreifen.
Wie also können wir die Potentiale der Digitalisierung noch viel effektiver nutzen, um unsere Demokratie in einer sich wandelnden Welt auch für die kommenden siebzig Jahre zu sichern?
de Bastion: Ein Kernaspekt, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen, um frühzeitig Weichen zu stellen, ist die Frage des Datenmanagements und der Data Governance. Wenn wir Modelle entwickeln können, durch die Menschen sich nicht gesteuert fühlen, sondern in der Lage sind, bewusste, durchaus auch datenbasierte Entscheidungen zu fällen, würde das allen nützen. Es muss uns gelingen, eine informierte, umfassend aufgeklärten Gesellschaft zu bilden, dann sind wir auf dem richtigen Weg! Hierzu braucht es Data-Governance-Modelle, die nicht auf die kommerzielle Verwertung persönlicher Daten ausgelegt sind, sondern die gemeinwohlorientierte Datennutzung möglich machen.
Und wo liegen hier die Herausforderungen?
de Bastion: Es braucht neuen Mut! Ich beobachte, dass wir uns zu oft in eine Ohnmachtsposition flüchten, wenn es um Digitalisierung und politische Gestaltung geht. „Wir können und wir möchten keine Daten regulieren“, solche Aussagen höre ich immer wieder. Die Herausforderung, der wir uns im demokratischen, europäischen Kontext stellen müssen, ist der Aufbau eines eigenen Modells des Umgangs mit Daten – in Abgrenzung zu staatlichen Überwachungsregimen einerseits und zu den von wirtschaftlichen Interessen dominierten Überwachungsregimen andererseits. Hier passiert bislang noch zu wenig. „Wie können wir überhaupt über ein öffentlich-rechtliches Google nachdenken – Google ist doch schon so mächtig.“ – Von dieser Haltung sollten wir wegkommen und mehr Mut aufbringen. Mut zu neuen, open-source-basierten Lösungen, zu einem neuen Betriebssystem für unsere Gesellschaft.
Welche grundsätzlichen Entwicklungen dürften für uns als Gesellschaft in Zukunft wichtiger, welche weniger wichtig werden?
de Bastion: Hoffentlich werden Klimaschutz und Nachhaltigkeit in der näheren Zukunft Debatten um soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Chancen noch stärker prägen als sie es heute tun. Vielleicht wird das Thema erneut so relevant, wie sie es ganz zu Beginn der Menschheit bereits war. Daneben sind Themen, die wir als Mitglieder des Zukunftskreises aktuell schon viel diskutieren – Wahrheitsfindung und Kohäsion unserer Gesellschaften sowie das Zusammenspiel von Arbeit und Wohlstand und persönlicher Bedürfnisbefriedigung. Wie sich in diesem Spannungsfeld zwischen Automatisierung und Datafizierung persönliche Entfaltung und Entwicklung gestalten lässt, dazu möchte ich im Zukunftskreis weiter diskutieren.
Über Geraldine de Bastion:
Geraldine de Bastion ist eine zweisprachige (englisch und deutsch) Politikwissenschaftlerin mit interkulturellem Hintergrund und hat Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Aktivisten, Regierungen, Start-ups und NGOs auf der ganzen Welt. Sie ist außerdem geschäftsführende Gesellschafterin des Beratungsunternehmens Konnektiv sowie Gründerin des Global Innovation Gathering (Netzwerk aus Grassroots Innovators, Social Entrepreneurs, Makerspaces, Hackerspaces und Innovation Hubs). Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind die Beratung von öffentlichen Institutionen, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen zum strategischen Einsatz digitaler Technologien, zu neuen Medien und neuen Geschäftsmodellen.
Über die „Strategische Vorausschau“:
Die Strategische Vorausschau ist für das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ein wichtiges Instrument, um frühzeitig Orientierungswissen über mögliche zukünftige gesellschaftliche und technologische Entwicklungen zu bekommen. Ziel ist es, die richtigen Weichen zu stellen, um künftigen Herausforderungen frühzeitig zu begegnen. Hierfür wurde der sogenannte Zukunftskreis berufen: 16 Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Disziplinen beraten das BMBF hinsichtlich Zukunftstrends. Aber auch den Bürgerinnen und Bürgern bieten die Ergebnisse der Vorausschau eine gute Orientierung für die Zukunft. Mehr Informationen finden Sie hier.