Studie: Deutschlands Industrie steht unter starkem Druck
Eine aktuelle Studie des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) in Zusammenarbeit mit der Boston Consulting Group (BCG) und dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat gezeigt, dass rund 20 Prozent der industriellen Wertschöpfung in Deutschland gefährdet sind. Um international wettbewerbsfähig zu bleiben, sind bis zum Jahr 2030 zusätzliche private und öffentliche Investitionen in Höhe von 1,4 Billionen Euro erforderlich.
23.09.2024
Laut der Studie „Transformationspfade“ stellen insbesondere dauerhaft hohe Energiepreise, Fachkräftemangel, übermäßige Bürokratie, unzureichende Investitionen und hohe Steuern im internationalen Vergleich eine Belastung für den Standort Deutschland dar. Die Untersuchung beleuchtet detailliert die Standortbedingungen für die Industrie und industrienahe Dienstleistungen und skizziert konkrete Maßnahmen zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit und Sicherung der Zukunft des Industriestandorts. Die Analyse wurde in den letzten neun Monaten in Zusammenarbeit mit über 30 Unternehmen und Verbänden erstellt, wobei mehr als 40 Expertinnen und Experten von BCG, BDI und IW beteiligt waren.
Balance zwischen Ökologie und Ökonomie
Die technologische Umsetzung der Klimaneutralität bis 2045 sei möglich, jedoch erscheine der von der Politik angestrebte Zeitplan zunehmend unrealistisch. „Die Transformationspfade-Studie ist ein lauter Weckruf der Industrie für dringend notwendige Veränderungen im Land. Sie stellt fundiert dar, welchen Realitäten sich die Politik stellen muss: Politisches Mikromanagement und fehlender marktwirtschaftlicher Reformwillen lähmen die Unternehmen. Das Risiko einer De-Industrialisierung durch die stille Abwanderung und Aufgabe gerade vieler Mittelständler nimmt kontinuierlich zu und ist teils schon eingetreten“, sagte BDI-Präsident Siegfried Russwurm bei der Vorstellung der Studie am Dienstag in Berlin. „Die Zeit und die Wettbewerber laufen uns davon. Um den Standort international fit zu machen und die grüne und digitale Transformation zu schaffen, muss die Politik ihre industriepolitische Agenda neu ausrichten. Im Kern muss diese Agenda mit dem Dreiklang aus ökologischem Fortschritt, ökonomischer Wettbewerbsfähigkeit und technologischer Offenheit Ernst machen und den in vielen Zukunftsbranchen global führenden deutschen Unternehmen Entfaltungs- und Wachstumschancen eröffnen, statt Hindernisse in den Weg zu legen.“
Strukturelle Herausforderungen
Die Untersuchungen von BCG und IW verdeutlichen, dass vor allem eine Vielzahl struktureller Probleme den Wirtschaftsstandort Deutschland ausbremsen. Kurzfristige Konjunkturprogramme bieten dafür keine nachhaltige Lösung.Die im internationalen Vergleich unattraktiven Standortbedingungen haben dazu beigetragen, dass sowohl staatliche als auch private Investitionen in Deutschland in den letzten 30 Jahren deutlich hinter denen anderer Industrieländer zurückgeblieben sind. Dies hat zu erheblichen Lücken beim Glasfaserausbau, im Bildungsbereich und in der Verkehrsinfrastruktur geführt. Hohe Energiepreise und umfangreiche bürokratische Auflagen binden zudem Kapital und Ressourcen, die für Investitionen und Innovationen dringend benötigt werden. „Die Wiederherstellung unserer Wettbewerbsfähigkeit ist die dringlichste Aufgabe der kommenden Jahre. Nur mit einer innovativen und kompetitiven Wirtschaft werden wir unseren Wohlstand und damit auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Zukunft sichern können“, sagte Michael Brigl, Zentraleuropachef von BCG.
Die Standortanalyse belegt eindeutig, dass die deutschen Industriesektoren aufgrund enger Lieferketten und diverser Abhängigkeiten in hohem Maße miteinander verflochten sind. „Allein die Grundstoffindustrien – um ein Beispiel zu nennen – lösen indirekt rund 84 Milliarden Euro zusätzliche Wertschöpfung in anderen Branchen aus“, erklärte Michael Hüther, Direktor des IW. „Durch diese Verflechtung kann in Krisensituationen die Schwäche einer einzelnen Branche die Wertschöpfung schneller in der Breite gefährden.“ Eine erfolgreiche Wirtschaft brauche eine starke Industrie; industrielles Wachstum und internationale Wettbewerbsfähigkeit müssen im politischen Handeln wieder zur Top-Priorität werden. „Voraussetzung für die Sicherung der industriellen Basis sind wettbewerbsfähige Energiepreise, schnelle Planungs- und Genehmigungsverfahren sowie eine modernisierte und weiter ausgebaute Infrastruktur – von Wasserstoffnetzen über Verkehr bis zu Digitalem. Statt als Bremsklotz sollte Regulierung als Wegbereiter für die Entwicklung von Innovationen verstanden werden. Wo immer möglich sollten europäische Lösungen gefunden, neue Importpartnerschaften geschlossen und die Verteidigungsfähigkeit des Landes gestärkt werden. Das reduziert internationale Abhängigkeiten, stärkt Resilienz und Fortschritt.“
Investitionsbedarf bis 2030
Die Studie identifiziert 15 zentrale Handlungsfelder, um die industrielle Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Der zusätzliche Investitionsbedarf beläuft sich auf 1,4 Billionen Euro bis 2030.„Nur mit diesen Investitionen gelingt die erfolgreiche Transformation hin zu einem zukunfts- und wettbewerbsfähigen Standort. Daher ist die Finanzierung der Transformation ganz klar eine Mehrgenerationenaufgabe“, sagte BDI-Präsident Russwurm. Der private Sektor, also Unternehmen und Haushalte, muss der Studie zufolge mit zwei Drittel der notwendigen Investitionen den Großteil tragen. Das verbleibende Drittel sind staatliche Investitionen.
„Die Zeiten für kleinteilige Regulierung, politische Feinsteuerung und vage Absichtserklärungen sind vorbei. Um Deutschland im internationalen Wettbewerb wieder nach vorn zu bringen und unsere Transformationsziele zu erreichen, braucht es jetzt den großen Wurf: Wir müssen alle Innovations- und Wachstumskräfte dieses Landes entfesseln und dringend mehr Tempo machen. Dann ist der Standort der schleichenden De-Industrialisierung nicht hilflos ausgeliefert“, so Russwurm.
Zukunftspotenziale in Schlüsselindustrien
Um ein umfassendes Verständnis der industriellen Transformation zu gewinnen, haben die Autoren sieben zentrale Branchen genauer analysiert. Sie sehen dabei insbesondere in den grünen und digitalen Technologien eine bedeutende Chance für Deutschland. In diesen Bereichen wird bis 2030 ein globaler Markt von über 15 Billionen Euro pro Jahr erwartet. Deutschland ist dabei insbesondere in den Sektoren Klimatechnologien, industrielle Automatisierung und Gesundheit gut positioniert. „Die gute Nachricht ist: Das Rennen um die Zukunftsmärkte ist noch nicht entschieden. Deutschland hat trotz der beschriebenen Herausforderungen des Standortes alle Chancen, um zentrale Zukunftsmärkte zu erschließen und Weltmarktführer zu werden”, sagte Brigl.