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Unterschiedliche Taxonomien klären künftig Europas Nachhaltigkeitsverständnis

Gerade beim Klimaschutz bleiben uns nur wenige Jahre, um die richtigen Weichen zu stellen. Aber auch bei vielen anderen Umwelt- und Sozialthemen gibt es Handlungsbedarf. Die EU will deshalb auf dem Verordnungswege über spezielle Taxonomien definieren, was nachhaltig ist. Wir sprachen darüber mit dem ESG-Experten Prof. Alexander Bassen.

17.06.2021

Unterschiedliche Taxonomien klären künftig Europas Nachhaltigkeitsverständnis
Prof. Dr. Alexander Bassen

Vor einem Gericht in Den Haag hat sich die Umweltorganisation Friends of the Earth gerade gegen Shell durchgesetzt, und die Klägeranwälte hatten argumentiert, dass die Regierungen und Märkte strukturell unfähig seien, den Klimawandel selbst zu bekämpfen. Ein Stück weit scheint das Gericht dieser Argumentation gefolgt zu sein. Wie bewerten Sie die Nachricht von gestern?

Prof. Dr. Alexander Bassen: Die Ankündigung, dass Shell bis 2030 die CO2-Emissionen um 45 Prozent senken muss, ist eine Sensation. Dass Gerichte so massive Einschnitte in die unternehmerischen Entscheidungen vornehmen, wie wir das ja auch beim Bundesverfassungsgericht in Deutschland gesehen haben, ist eindeutig ein Zeichen dafür, dass von Seiten der Gesetzgebung, aber auch von Seiten der Kapitalmarktakteure offensichtlich nicht genug Druck ausgeführt wird, um die vereinbarten Klimaziele zu erreichen. Von daher finde ich diese Urteile, die wir jetzt erleben, schon extrem bemerkenswert, um nicht zu sagen, alarmierend. Vor allem alarmierend für Regierungen und Parlamente.

Viele wichtige Akteure sind seit Jahren schon bei dem Thema am Ball. Klaus Schwab vom World Economic Forum fordert eine einheitliche Metrik, Larry Fink von Blackrock mehr Engagement der Unternehmer, und die Beraterikone John Elkington sieht einen Wachwechsel von Profitdenken zu Purpose statt. So viele kluge Leute sagen, dass die Reise scheinbar unaufhaltsam Richtung Nachhaltigkeit geht. Warum macht die Europäische Union da überhaupt noch strenge Regeln wie EU-Taxonomie, neue CSRD-Direktive oder Lieferkettengesetze? Oder war das gerade deshalb jetzt der richtige Schritt?

Bassen: Eindeutig ja. Sie haben gerade Larry Fink angesprochen, dessen Brief nicht nur ein sehr großes Medienecho, sondern auch Kapitalmarktecho hatte. Ich weiß von Unternehmen aus Hongkong, die diesen Brief genutzt haben, um ihre Klimaaktivitäten voranzutreiben. Wir haben das empirisch untersucht und können tatsächlich sagen, dass betroffene Unternehmen eine besonders negative Renditeentwicklung nach der Ankündigung dieses Briefes hatten.
Auch staatliche Regulierungsmaßnahmen, die wir momentan sehen, haben Effekte, die man ökonomisch messen kann: Veränderte oder verpflichtende Berichtsstandards führen dazu, dass die Unternehmen ihre Performance im Nachhaltigkeitsbereich verbessern.

Wir haben in den nächsten drei bis fünf Jahren ein Zeitfenster, wo wir agieren müssen, da ist sich die Wissenschaft weitgehend einig

Ich bin fest davon überzeugt, dass das auch der richtige Weg ist, weil der Zeitdruck extrem hoch ist, den wir gerade in Bezug auf Klimaneutralität oder noch besser gesagt Klimastabilität sehen. Wir haben in den nächsten drei bis fünf Jahren ein Zeitfenster, wo wir agieren müssen, da ist sich die Wissenschaft weitgehend einig, um das Pariser Abkommen überhaupt noch einhalten zu können. Und diese Prozesse müssen von Seiten des Regulierers oder von Seiten der EU unterstützt werden.

Die Idee dahinter ist, dass wir in einem Teil der Welt Nachhaltigkeitsregeln aufstellen, die aufgrund der globalen Vernetzung der Märkte auch weltweite Folgen haben. Jetzt hat jede Regel neben einer faktenbasierten auch eine moralische Seite. Europa will damit auch seine Werte weltweit durchsetzen. Ist das nicht arrogant und angesichts einer neuer globalen Machtkonstellation naiv?

Bassen: Es wird vor allen Dingen auch nicht funktionieren. Wenn man sich anguckt, wie sich die Landschaft im Bereich der Nachhaltigkeitsberichtsstandards in dem letzten halben, Dreivierteljahr entwickelt hat, dann ist das sehr, sehr bemerkenswert. Wir sehen auf Seiten der freiwilligen Berichtsstandards, dass es dort nicht nur Kooperationen, sondern teilweise auch Zusammenschlüsse gibt. Zum Beispiel hat SASB, das Sustainability Accounting Standards Board, sich in den USA zusammengeschlossen mit dem IIRC, dem International Integrated Reporting Council. Interessant ist auch, dass das IASB, also das International Accounting Standards Board, das für die Entwicklung internationaler Rechnungslegungsstandards verantwortlich zeichnet, jetzt auch eine Initiative gestartet hat, um Nachhaltigkeitsberichtsstandards zu entwickeln.

Die Herausforderung ist aber, dass es auf eine Vereinheitlichung hinausläuft, denn es hat wenig Sinn, wenn wir auf der EU-Ebene eine Taxonomie und dann eine CSRD, also Berichtspflicht für Nachhaltigkeit haben, und auf der anderen Seite derjenige, der verantwortlich zeichnet für die Erstellung der Finanzberichterstattung, einen eigenen Standard setzt. Von daher bin ich nicht sehr optimistisch, dass die EU-Standards ein globaler Standard werden.

Dann lassen Sie uns näher auf die neuen Regeln schauen! Ganz wichtig ist: Double Materiality ersetzt Financial materiality. Dass müssen Sie uns erklären!

Bassen: Wenn wir uns bisher mit Nachhaltigkeitsthemen auseinandergesetzt haben, ging es immer um die Frage, welche Nachhaltigkeitsfaktoren Einfluss auf den finanziellen Erfolg des Unternehmens haben. Nehmen wir beispielsweise CO2-Emissionen: CO2-Emissionen tragen zum Klimawandel bei, und das wiederum kann negative Effekte auf das Unternehmen haben, weil es beispielsweise zu mehr Trockenheit oder mehr Wetterextremen kommt. Und das hat konkreten Einfluss auf den finanziellen Erfolg des Unternehmens.

Doppelte Materialität heißt beispielsweise zu fragen: Welchen Einfluss hat das Unternehmen auf das Klima und welchen Einfluss hat das Klima auf das Unternehmen?

Die doppelte Materialität geht jetzt auch in die andere Richtung und schaut sich an, welchen Einfluss die Aktivitäten der Unternehmen auf externe Faktoren haben. Doppelte Materialität heißt beispielsweise zu fragen: Welchen Einfluss hat das Unternehmen auf das Klima und welchen Einfluss hat das Klima auf das Unternehmen? Und das gilt für alle möglichen Umwelt- und auch gesellschaftlichen Faktoren. Die EU-Kommission hat schon vor zwei, drei Jahren klargestellt, dass ihr Verständnis das der doppelten Materialität ist, aber in der neuen CSRD ist es noch mal ganz klar adressiert und damit Teil der künftigen Berichterstattung.

Ist Double Materiality eigentlich gleichzusetzen mit SDG Materiality, oder ist das nicht noch weitergehend?

Bassen: Die Sustainable Development Goals, die 2015 von den Vereinten Nationen verabschiedet wurden, beinhalten 17 Ziele, auf die sich die Staatengemeinschaft geeinigt hat, mit 169 darunterliegenden Targets. Die waren ursprünglich gedacht für Staaten, die sich daran messen lassen sollen. Sie werden jetzt aber verstärkt auch von Unternehmen eingesetzt, um die eigene Leistung an gesellschaftlichen Herausforderungen zu messen. Bei der doppelten Materialität ist es nicht zwangsläufig der Fall, dass das dort abgedeckt wird.

Die SDGs decken sehr, sehr unterschiedliche Bereiche ab – das geht von Armut und Hunger zu Umweltfragen, Wasser, aber auch sozialen Fragen wie Stadtentwicklung. Wenn man eine SDG-Materialität zu Grunde legt, dann gilt es herauszuarbeiten, welchen Einfluss Unternehmen mit ihren Aktivitäten oder mit ihren Produkten auf die SDGs haben. Das ist eine ganz wesentliche Frage, über die manche Unternehmen schon heute berichten. Wenn wir uns die Berichterstattung allerdings näher angucken, werden häufig einzelne SDGs rausgepickt. Üblicherweise diejenigen, wo man als Unternehmen einen positiven Beitrag leistet. Interessant ist aber natürlich, das gesamte Bild zu sehen: also sowohl die positiven Beiträge, die von Unternehmen geleistet werden, als auch die negativen, die zwangsläufig existieren, weil die SDGs auch Zielkonflikte beinhalten.

Wachstumsaspekte verursachen häufig Probleme mit Umweltaspekten, aber auch mit sozialen Standards. Diese Zielkonflikte muss man in einer Gesamtbetrachtung natürlich immer adressieren, weil man ansonsten kein vollständiges Bild hat.

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Im Bereich des Klimawandels haben wir die „Währung“ CO2-Äquivalente, mit der man arbeiten kann. Das ist bei anderen Themenfeldern – ich denke an Biodiversität oder soziale Themen – längst nicht so klar definiert und einfach messbar. Wie lösen wir denn das Problem, wenn wir einerseits Veränderung wollen und auf der anderen Seite gar nicht wirklich konsistent und kohärent Veränderung messen und bewerten können?

Bassen: Das ist sicherlich eines der zentralen Probleme. Wir sind dort schon deutlich weiter, als wir es vor einigen Jahren waren, das muss man ehrlicherweise sagen.

Die EU versucht das jetzt mit Hilfe der Taxonomie zu ermitteln. Dort wurde es bisher für Klimafragen, Climate Change Mitigation and Adaptation gemacht. Die EU hat aber sechs Umweltziele aufgestellt – dazu zählen neben den eben genannten auch Circular Economy oder Biodiversität. Dafür werden jetzt gerade Messgrößen erarbeitet, die dann auch Standard der Berichterstattung werden sollen. Diese sind, soweit es geht, auch stets wissenschaftlich unterlegt. Bei Climate Change Mitigation and Adaptation richtet man sich beispielsweise nach dem Pariser Abkommen. Das heißt aber auch, dass wir künftig sehr viel enger zusammenarbeiten müssen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus anderen Disziplinen, weil wir sonst wieder bei häufig vermittelten Größen wie Tonnen Abfall auf Tonnen hergestelltem Auto landen. Das ist unterkomplex.

Taxonomie und CSRD sind zunächst nur Vorschläge der EU-Kommission, auf der anderen Seite sind die Zeitangaben schon sehr konkret gemacht. Wenn wir bis 2030 noch etwas erreichen wollen, ist für lange Diskussionen im Grunde auch gar keine Zeit mehr. Wie schätzen Sie das weitere Procedere ein?

Bassen: Bei der Taxonomie wird das aus EU-Perspektive unproblematisch sein, weil diese Verordnung direkt von der EU durchgesetzt wird. Das muss nicht mehr durch die nationalen Parlamente. Es muss grundsätzlich durch den Rat, das ist aber schon am 21. April erfolgt. Die CSRD, also die Berichtspflicht für Unternehmen, muss allerdings durch die nationalen Parlamente gehen. Und die machen üblicherweise vorher einen Anhörungsprozess, um ihre Stakeholder anzuhören. Die EU-Kommission hat diesmal aber bei einigen Themenbereichen schon reingeschrieben, dass es dort keinen Spielraum für nationale Abweichungen gibt. Beispielsweise muss die Berichterstattung in Zukunft im Lagebericht erfolgen. Natürlich kann ein Unternehmen einen separaten Nachhaltigkeitsbericht machen, aber das erfüllt dann nicht mehr die Anforderungen der CSRD. Die EU-Kommission hat also schon festgelegt, was nicht mehr diskutierbar ist. Der zeitliche Ablauf wird sein, dass die Direktiven in diesem Jahr sicherlich durchs Europäische Parlament gebracht werden, und dann bleiben noch üblicherweise zwei Jahre für die nationale Umsetzung.

Aktuell gibt es nur eine Klima-Taxonomie. Jetzt haben wir ja vorher aber über weitere Materialitätsbereiche gesprochen. Das ist ja viel mehr als Klima. Heißt das, dass es noch viele, viele weitere Taxonomien geben muss?

Bassen: Ja, das ist in der Tat so. Diese ersten beiden Umweltziele, Climate Change Mitigation and Adaptation und die sogenannte Climate Taxonomy sind nur der erste Schritt. Die anderen Umweltziele folgen noch in diesem Jahr. Und es bleibt natürlich die Frage: Was passiert mit den sozialen Zielen, die natürlich auch hochgradig relevant sind, wenn man über das Thema Nachhaltigkeit spricht? Auch eine soziale Taxonomie ist bereits in Arbeit. Sie wird später kommen, weil man dafür technische Bewertungskriterien identifizieren muss. Sie wird spätestens im nächsten Jahr kommen, da bin ich mir ziemlich sicher, weil dafür auch der gesellschaftliche Druck erstens zu groß ist und zweitens die Notwendigkeit auch da ist.

Vielen Dank für dieses sehr spannende Gespräch.

Zur Person:

Alexander Bassen ist seit 2003 Professor für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Kapitalmärkte und Unternehmensführung, an der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Bewertung nicht-finanzieller Informationen, Nachhaltigkeit, kapitalmarktorientierte Unternehmensführung und Corporate Governance. Zudem ist er seit 2013 Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung.

Quelle: UmweltDialog
 

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