Wie Teamwork gelingt: eine Lektion von Ratten
Sich auf die eigene Aufgabe konzentrieren, aber dabei stets auf andere achten: Das ist der Schlüssel zum Erfolg – zumindest für Ratten, wenn sie als Gruppe auf Erkundungstour gehen. Eine aktuelle Studie der Universität Konstanz, des Konstanzer Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie und der Eötvös University (Ungarn) analysierte die Suchstrategien von Rattengruppen im Labyrinth.
26.10.2020
Die Ratte im Labyrinth ist wohl eines der klassischsten Experimente der Verhaltensforschung. Ein internationales Forschungsteam der Universität Konstanz, des Konstanzer Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie und der Eötvös University (Ungarn) gab dieser klassischen Studie einen neuen Twist – und ergründete mit moderner Technologie die Erkundungs- und Suchstrategien von Tiergruppen.
Im Fachjournal Current Biology beschreiben die Forschenden ihren neuen Ansatz beim Experiment mit Ratten im Labyrinth: Sie setzten diese nicht allein, sondern in Gruppen ins Labyrinth, um ihr Problemlösungsverhalten zu untersuchen. Durch Video-Tracking wurde das Verhalten jeder einzelnen Ratte simultan erfasst, während sie gemeinsam ihre Umgebung erkundeten. Dabei zeigte sich, dass Ratten einfache Verhaltensregeln anwenden, mit denen sie in der Gruppe überdurchschnittliche Suchleistungen erzielen.
„Wir haben festgestellt, dass Gruppen bei der Suche nach einem Ziel besser abschneiden als Individuen, selbst wenn sie nur begrenzt in der Lage sind, zu kommunizieren oder Informationen auszutauschen. Die einfachen Suchstrategien dieser Gruppen, die wir in unserer Studie entdeckt haben, könnten die Entwicklung neuer Algorithmen für kollektive Suchanwendungen anstoßen“, sagt Dr. Máté Nagy (Eötvös University, Ungarn), der die Studie während seines Forschungsaufenthaltes am Konstanzer Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie und an der Universität Konstanz durchführte.
Ein neuer Twist für die Ratte im Labyrinth
Seit Jahrzehnten greifen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Erforschung von Navigation, Gedächtnis und Lernverhalten auf eine klassische experimentelle Suchaufgabe zurück: Eine einzelne Ratte wird in einem komplexen Labyrinth auf die Suche nach einer Belohnung geschickt. Ratten sind jedoch äußerst soziale Tiere, die in der Natur komplexe Höhlensysteme als Lebensraum erschaffen und bewohnen. Dennoch ist sehr wenig darüber bekannt, wie sie als Gruppe auf Erkundung gehen. In der neuen Studie verwandelten Forschende aus Deutschland und Ungarn das klassische Suchexperiment in die erste experimentelle Studie zum Gruppensuchverhalten von Nagetieren in einem Labyrinth.
„Ratten gelten seit langem als einer der geeignetsten Modellorganismen für den Menschen. Indem wir eine Gruppe von Ratten einsetzten, um kollektive Problemlösungsstrategien zu modellieren, konnten wir grundlegende Techniken aufzeigen, die die Nagetiere einsetzen, sowie Einblicke in die Regeln gegeben, wie Individuen ihre Suchleistung in der Gruppe verbessern“, sagt Hauptautor Prof. Dr. Tamás Vicsek von der Eötvös Universität (Ungarn), einer der Begründer der kollektiven Verhaltensforschung und Initiator der Idee, kollektive Erkundung im Rahmen dieses Forschungsprojekts zu untersuchen.
Eine soziale Aufgabe
Die Forschenden wollten klären, wie Individuen in einer Gruppe mit einem gemeinsamen Ziel Entscheidungen treffen. Wie sehr sollte sich beispielsweise jedes Einzeltier auf seine eigene Suche allein konzentrieren, wie sehr darauf achten, was andere tun? Inwieweit ist Kommunikation und Koordination zwischen den Gruppenmitgliedern erforderlich?
Das Forschungsteam entwarf und baute ein relativ großes und komplexes Labyrinth mit 16 Endpunkten. Das Labyrinth war so strukturiert, dass die Ratten einander nur in unmittelbarer Nähe sehen konnten. Jeder Endpunkt war mit einem Wasserspender ausgestattet, aber nur einer davon war gefüllt. Bei dem Suchexperiment wurden die Ratten sowohl alleine als auch in Achtergruppen auf die Suche nach der Wasserbelohnung geschickt. Dabei wurde die Zeit gemessen, wie lange die Ratten jeweils benötigten, um die Belohnung zu finden. Eine automatisierte Tracking-Software zeichnete die Bewegung der Ratten auf und rekonstruierte ihre individuellen Laufwege, wodurch die dem Suchverhalten zugrundeliegenden Merkmale entschlüsselt werden konnten.
Das richtige Gleichgewicht zwischen Alleingang und Teamwork
In der Gruppe schnitten die Ratten bei den Suchaufgaben besser ab, als wenn sie auf sich allein gestellt waren. Als die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Entscheidungen der Ratten an den Labyrinth-Kreuzungen genauer untersuchten, stellten sie fest, dass sich das Agieren der Gruppenmitglieder auf einfache Regeln reduzieren lässt: Beschreite unerforschte Wege, aber folge anderen Ratten.
Zur Bestätigung der Allgemeingültigkeit dieser Regeln führten die Forschenden anhand von Computermodellen eine große Anzahl an Simulationen durch, um die Effektivität verschiedener Kombinationen dieser einfachen Regeln zu untersuchen. Sie stellten fest, dass Individuen bei der Suche in der Gruppe am besten abschnitten, wenn sie das richtige Gleichgewicht zwischen der Erkundung im Alleingang und dem Folgen anderer Ratten gefunden hatten. Beide Extreme—andere vollständig zu ignorieren bzw. anderen zu sehr zu folgen—resultierten sowohl für die Gruppe als Ganzes als auch für jedes einzelne Mitglied auf lange Sicht in schlechteren Leistungen.
„Forscherinnen und Forscher haben bislang in zahlreichen Studien beschrieben, wie Individuen ihre Navigationsleistung verbessern, indem sie anderen folgen – oder indem sie in einer Gruppe sind. In unserer Studie kombinierten wir zwei klassische experimentelle Komponenten, um die Mechanismen hinter solcher Gruppennavigation im Detail aufzudecken: Die Erkundung eines Labyrinths, durchgeführt von der hochgradig sozialen Ratte als Modellorganismus. Indem wir diese Elemente zusammenbrachten, konnten wir erfolgreich die Suchstrategien aufdecken, die Gruppen zu mehr Erfolg als Einzeltieren verhelfen“, spricht Dr. Andrea Flack, Co-Autorin der Studie sowie Nachwuchsgruppenleiterin am Konstanzer Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie und an der Universität Konstanz.
Den Forschenden zufolge eröffnen diese einfachen Entscheidungsregeln Möglichkeiten zur Entwicklung von Algorithmen für künstliche Suchsysteme. „Das können unter anderem Aufgaben sein, bei denen eine Gruppe autonomer Roboter komplexe, labyrinthische Umgebungen erkundet, die nur eine begrenzte Kommunikation zulassen, wie zum Beispiel in verlassenen Minen“, schildert Máté Nagy, der zwischenzeitlich die Collective Behaviour-Forschungsgruppe „Lendület“ der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und der Eötvös University leitet.