Think negative!
Das „gute Leben für alle“ gilt heute im Zeichen der „Agenda 2030“ als das ultimative Ziel all dessen, was durch eine „nachhaltige Entwicklung“ der Welt erreicht werden solle. Bis zum Jahr 2030 wolle man „alles aus dem Plan fertig haben“, heißt es zuversichtlich und in leichter Sprache auf der Website der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. Die Wirtschaftsuniversität Wien konkretisiert diese Zielvorstellung des guten Lebens für alle „als Zeitwohlstand, als florierende Nahversorgung, gutes Essen und reduzierten Mobilitätszwang“.
19.06.2023
Ist es wirklich das, was die Menschen weltweit motiviert? Der Managementberater Reinhard K. Sprenger ist skeptisch. In einem Beitrag mit dem Titel „Die positive Kraft des negativen Denkens“ schreibt er: „Wenn man mit Menschen spricht, bin ich immer wieder erstaunt, wie unterschiedlich sie ihr Leben gestalten. Der eine sucht Geld, der andere Freizeit, der eine soziale Bedeutung, der andere friedvollen Rückzug. Letztlich weiß niemand, was in einem absoluten Sinne gut, richtig und wahr ist“ („Gehirnwäsche trage ich nicht“, Campus, 2023). Wie kommen wir also dazu, unter dem Ethos-Label „Nachhaltigkeit“ ein einheitliches Lebensglück und -ziel für alle zu postulieren?
Tatsächlich fällt auf, dass in der emotionalen Ausstattung des Menschen die „negativen“ Gefühle die „positiven“ bei weitem dominieren. So beschreibt der Begründer der integrativen kognitiven Verhaltenstherapie, Harlich Stavemann, den Kreis der menschlichen Grundgefühle mit sechs „negativen“ und nur zwei „positiven“ Gefühlen: Trauer, Ärger, Angst, Niedergeschlagenheit, Scham und Abneigung stehen Freude und Zuneigung gegenüber. Wir scheinen als Spezies also eher darauf programmiert zu sein, negative und bedrohliche Zustände wahrzunehmen. Warum ist das so? Die Antwort gibt die Psychologin Fanny Jimenez, sie „liegt in der überaus wichtigen Funktion, die Emotionen für den Menschen haben. Positive Gefühle sind zwar schöner, negative aber sichern das Überleben. Denn sie liefern eine blitzschnelle Einschätzung der Lage und bereiten die Reaktion auf sie vor: ob man von Freunden oder Feinden umgeben ist, ungerecht oder gerecht behandelt wird, oder ob etwas gefährlich ist oder nicht.“
Und weil das so ist, scheint es uns auch viel leichter zu fallen, uns darüber zu verständigen, was wir nicht wollen. Reinhard Sprenger plädiert aus diesem Grund für das negative Denken: „Was ist das, was du nicht willst? Darüber sind sich die meisten Menschen schnell einig… Und es sind nur wenige Dinge: körperliche Gewalt etwa, Krankheit, Krieg. Die negative Reziprozität ist als bescheiden, sie will Schlimmes abwenden. Es biegt jedenfalls nicht ab ins allgemein Wünschbare.“ Sprenger hält die Perspektive auf das Negative, das zu Vermeidende deshalb am besten geeignet, „als ein moralischer Universalkonsens anerkannt zu werden“, denn darauf könne „sich selbst eine heterogene Gesellschaft einigen“.
Wäre es also nicht sehr viel produktiver, wir würden uns anstelle der ständigen Neuauflagen von „Purpose“ gesättigter, alle beglückender Menschheitsziele und Nachhaltigkeitspostulate auf eine „negative Ethik“ verständigen, die kein Ziel hat außer dem, konkret absehbaren Schaden zu vermeiden? Und ansonsten die Menschen machen lassen, wie sie wollen? Eine solche Ethik möchte, wie Sprenger feststellt, „keinen Endzustand erreichen, kein Paradies auf Erden.“ Pandemie, Ukraine-Krieg, Energieprobleme und die geopolitischen Umbrüche dürften uns inzwischen ja auch zusätzlich geholfen haben, aus naiven Träumereien aufzuwachen.
Spannend ist, dass „Think negative!“ inzwischen auch in der Managementpraxis, in der Teamführung und in der Moderation von Entscheidungsprozessen angekommen ist. Die Orientierung auf Widerstände (was die Menschen nicht wollen) anstatt auf Zielverheißungen, die im „systemischen Konsensieren“ erfolgreich praktiziert wird, etabliert sich zunehmend und führt zu besserer Team-Perfomance.