Warum Zumachen so leicht, aber Öffnen so schwer ist.
Eine der Lehren, die wir aus „Corona“ ziehen müssen, lautet: Es ist leicht, einer Gesellschaft den Lockdown zu verordnen, aber es ist ungemein schwieriger, das gesellschaftliche Leben wieder zu öffnen. Warum ist das aber so?
05.06.2020
Im aktuellen Blog von brandeins befasst sich Wolf Lotter mit dem Unterschied zwischen Komplexität reduzieren und Komplexität erschließen. Dabei stellt er fest: „Je mehr Unsicherheit, Angst und Unvermögen im Umgang mit Komplexität herrscht, desto mehr reden die Leute von Planung, Kontrolle und Gestaltung.“ Das war die Situation zu Beginn der Corona-Krise und so war unser Handeln: Jetzt ging es erst einmal um Kontrolle und ein striktes Maßnahme-Korsett. Die Planung wurde zentralisiert, die politische Exekutive übernahm das Heft des Handelns und die Angst vor der Überlastung des Gesundheitssystems dominierte alles. Differenzierung war nicht mehr möglich, die Bilder aus China und Italien wurden zum Maßstab. Dass die Zustimmungswerte für die Führung in dieser Zeit deutlich anstiegen und viele sich in dieser plötzlich so einfach geregelten Welt merklich wohlfühlten, zeigt, dass die Reduzierung der Komplexität erfolgreich war. Die Welt war einfacher geworden, trotz oder gerade wegen der Bedrohung.
Aber unsere Welt ist eben nicht wirklich so einfach und so fällt es ungemein schwer, nach dem Lockdown eine überzeugende Lockerungsstrategie zu entwickeln. Wollten zu Beginn der Pandemie-Krise manche Politiker das Virus noch „stoppen“, merken wir jetzt, dass es in der Welt bleiben wird und unser Leben noch komplexer macht.
Aus der Ecke der Digitalisierungselite wird das gefeiert als „der klare Beweis, dass unsere Welt viral gegangen ist. Fast alles ist mit fast allem vernetzt, über Telekommunikation, Handel, Reisen, die globalen Finanzmärkte“. Die Macher des ada-Magazins begrüßen uns nach dem Corona-Schock hymnisch „im viralen Zeitalter. Hier zählt nicht mehr Stabilität, sondern Flexibilität“. Dass wir uns fast alle mehr oder minder erfolgreich und beglückt mit Zoom-Meetings und Webinaren anfreunden, ist das aber wirklich schon die „neue Flexibilität“?
Hören wir noch einmal Wolf Lotter zu, der schreibt: „Soziale Systeme bauen darauf, dass Menschen Entscheidungen treffen und Zusammenhänge herstellen. Sie wählen aus, bewerten. Das ist es, was man unter Vernetzung versteht. Das Netzwerk ist nicht Facebook, das Netzwerk sind wir selbst.“
Es wird also nicht die Digitalisierung an sich sein, die uns zu den neuen Menschen macht, die mit Komplexität anders umgehen, als wir es bisher gewohnt waren. Bisher haben wir Komplexität vor allem reduziert. In Zukunft gilt es, sie zu erschließen und zu nutzen.
Und dies wird eine Aufgabe für Menschen sein, nicht für Maschinen. Bei stratum hat sich eine kleine Entwicklergruppe aus Trainern und Beratern damit befasst, herauszufinden, was denn die nächste Stufe der Kompetenz wäre, die Unternehmen und Organisationen voranbringt. Sie sind zu dem Schluss gekommen, dass es tatsächlich mit dem „Öffnen“ zu tun hat. Öffnen in dem Sinne, dass wir lernen, Kooperationen und Partnerschaften sehr viel stärker in den Mittelpunkt unseres Handelns zu stellen. Diejenigen Organisationen, so die Hypothese, werden in Zukunft erfolgreicher sein, die sich nicht gegen die Außenwelt (die „Konkurrenz“) abgrenzen und die eigenen Intentionen gegen Widerstände durchzusetzen versuchen, sondern die ständig auf der Suche sind, sich in Projekten mit verschiedenen Partnern weiterzuentwickeln und die Komplexität des eigenen Systems dadurch zu erhöhen. Nicht die innere Planbarkeit, sondern die Perturbation durch systematisches Auflösen der Außengrenzen wird Unternehmen und Organisationen in der VUCA-Welt bestehen lassen.