Wirtschaftsethik

Die psychologische Wende der Nachhaltigkeit

In diversen Nachhaltigkeitsdiskursen unserer Zeit steht das Planbare, das Festhalten an der Illusion, alles kontrollieren zu können (auch die Zukunft), immer noch im Zentrum der Bemühungen. Diese Illusion steht hinter der Idee der „Großen Transformation“, die glaubt, aus heutiger Sicht für die ganze Welt entscheiden zu können, „was wachsen soll und was nicht“. Und die viel beschworenen SDGs der UN erwecken den Eindruck, als ob sich die Welt im Systembaukasten von 17 Oberzielen zurechtrütteln ließe, die alle mit hübschen Icons illustriert sind und eine konfliktfreie Vorstellung des Fortschritts transportieren.

21.01.2021

Die psychologische Wende der Nachhaltigkeit

Dass die in den „Sustainable Development Goals“ (SDGs) versammelten Maximalvorstellungen des guten Lebens für alle nicht nur in sich an vielen Stellen widersprüchlich sind, sondern dass ihre sozioökonomische Verwirklichung für demnächst acht Milliarden Menschen den Planeten faktisch ruinieren dürfte, ist ein zwar von prominenter Seite (zum Beispiel durch Ernst Ulrich von Weizsäcker) vorgebrachter, aber kaum beachteter Einwand. Welcher uns aber nicht davon abhält, weiter fröhlich mit den SDG-Bauklötzchen zu hantieren und uns nach Belieben aus den verschiedenen Ziele- und Unterziele- und Indikatoren-Schubladen zu bedienen, um unsere Anschlussfähigkeit an den nachhaltigen Mainstream zu belegen.

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Ähnlich realitätsfremde und überhebliche Vorstellungen finden sich bei Klimaaktivisten, die glauben, man könne mit einem archimedischen Hebel das „ganze System“ einfach verändern, um alle Widersprüche und Probleme aus der Welt zu schaffen („system change not climate change“). Erfreulicherweise stoßen wir neuerdings auf Stimmen, die einen systemischen Blick auf unsere Welt fordern und hinsichtlich hochfliegender Transformationsideen fordern, „dass sich die Akteure von der Idee der Steuerbarkeit von Veränderungsprozessen verabschieden müssen“. Kora Kristof, Leiterin der Grundsatzabteilung im Umweltbundesamt, verlangt den Akteuren der Nachhaltigkeit „eine realistische Einschätzung der Steuerbarkeit von Veränderungsprozessen“ ab, um sie „vor unrealistischen Selbstansprüchen“ zu bewahren.

Aus einer philosophischen Sicht kritisiert der Neurobiologe Gerald Hüther das heute grassierende Sicherheits- und Kontrollbedürfnis: „Wenn wir alles im Griff hätten und in der Lage wären, unsere Zukunft tatsächlich so zu gestalten, wie wir sie uns vorstellen und wünschen, wenn wir alles, was künftig geschieht, genau vorhersagen könnten und für alle zu unseren Lebzeiten auftretenden Schwierigkeiten, Problemen und Bedrohungen eine optimale Lösung parat hätten, gäbe es keine Zukunft mehr.“

Was aber steht dann hinter all diesen Kontroll- und Planungsphantasien, die auch für die Nachhaltigkeitsszene konstitutiv zu sein scheinen? Es kann nur der menschliche Faktor sein, sprich: die Bedingungen unseres geistig-seelischen Daseins. Das ist der Grund, warum wir es für angebracht halten, über eine psychologische Wende der Nachhaltigkeit zu diskutieren. Vielleicht kommen wir so zu einem realitätsnäheren, unaufgeregteren und optimistischeren Verhältnis zur Welt und unseren Möglichkeiten.

Angst und Frustrationsintoleranz dominieren Nachhaltigkeitsszenerie

Tatsächlich finden wir heute zahlreiche Belege, dass die Nachhaltigkeitsszenerie von Angst und Frustrationsintoleranz dominiert ist. Sehen wir uns beispielweise das Gespräch zwischen der Klimaaktivistin Luisa Neubauer und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble an, das DER SPIEGEL in einem Special vom Oktober 2020 dokumentiert.

Angst reduziert die Komplexität der Welt und fokussiert sich auf die eine Ursache des Übels, die Klimakatastrophe. Beinahe so, wie der Herzneurotiker daran glaubt, demnächst am Herzinfarkt zu sterben. Psychologisch sprechen wir hier von einem existenziellen Problem.

Schäuble: Man kann nicht immer nur eine Sache priorisieren, auch wenn man völlig überzeugt ist, dass man richtigliegt. Politik besteht nicht nur aus einem Thema. Und sie besteht nicht nur aus einer Haltung… Es ist die Pflicht der Politik, darauf hinzuweisen, dass es viele Probleme gibt, nicht nur das eine.

Neubauer: Es ist ein grundsätzlicher Fehler, die Klimakrise als ein Problem unter vielen zu behandeln… Man muss diese existenzielle Krise der Menschheit auch als solche behandeln.

Wir nehmen unseren Lebenshorizont als Maßstab und glauben, es läge an uns, die Welt retten zu müssen/zu können. Unsere eigene Lebensangst wird zur Projektion des Untergangs der Welt. Wir sind deshalb auch ungeduldig und wollen schnelle Lösungen, das Bohren dicker Bretter ist uns lästig. Die anderen sollen sich nach unseren Wertvorstellungen und unserem Geschmack richten, weil wir im Besitz der wissenschaftlich fundierten Wahrheit sind. Psychologen nennen das ein Frustrationsintoleranz-Problem.

Neubauer: Wir erleben zum ersten Mal eine planetare Krise in diesem Ausmaß, in der selbst die schönsten Worte nicht helfen, weil sich die Physik davon nicht beeindrucken lässt… Wir müssen Gesellschafts- und Wohlstandsmodelle entwickeln, die weltweit auf Dauer funktionieren können.

Schäuble: Es reicht aber trotzdem nicht, dass Wissenschaftler oder engagierte junge Leute das feststellen. Demokratisch kann man nur etwas ändern, wenn man Mehrheiten gewinnt.

Eine Röntgen-Aufnahme zeigt das Gehirn eines Menschen.

Auswege aus der dysfunktionalen Idee

Was wären, kurzgefasst, Auswege aus der dysfunktionalen Idee, die Welt retten zu müssen beziehungsweise den Untergang zu erwarten? Drei Vorschläge:

1. Die Grenzen unseres Menschseins akzeptieren. Also sich damit zu befassen, was unsere psychischen Bedürfnisse sind – und sie von der Welt um uns herum zu unterscheiden. Tatsächlich sind es ja nicht äußere Dinge, die uns Angst machen, sondern immer „nur“ unsere eigene Verarbeitung und Bewertung der in uns erzeugten „Arousals“, die wir minimieren oder verstärken können. Die Beschäftigung mit der konstruktivistischen Erkenntnistheorie kann uns dabei helfen, zu erkennen, in welchem Maße wir selbst unsere Realität erschaffen.

2. Unser Handeln auf eine empirische Basis stellen – statt sich mit symbolpolitischen und ideologischen Debatten aufzuhalten. Wer sein Denken über die Welt nicht mit der Welt selbst verwechselt, wird seinen eigenen Urteilen und Wahrheiten gegenüber skeptischer werden. Ist das wirklich für alle so? Und ist es immer so? Wie weit reicht meine Macht und Verantwortung tatsächlich? Was kann ich praktisch tun, um nach meinen Vorstellungen zu leben? Und welche Vorstellungen anderer muss ich einfach gelten lassen?

3. Das prinzipiell Unentscheidbare aushalten. Wolfram Stierle nennt dies „Ambivalenzkompetenz“. Im Zusammenhang mit Entwicklungspolitik verweist er darauf, dass Hilfsprogramme für den globalen Süden die Tendenz haben, „zu korrumpieren und die Eigeninitiative der politisch Verantwortlichen zu unterminieren“. So stellt sich die Frage: „Sollen wir lieber nichts tun als eingreifen? Sollen wir keine Menschenleben retten? Wäre nicht gerade das gefährlich und barbarisch?“ Es gibt keine Garantie dafür, das Richtige zu tun oder das Falsche sein zu lassen.

Die psychologische Wende der Nachhaltigkeit könnte dazu führen, dass wir unsere völlig übertriebenen Kontrollansprüche an die Welt herunterschrauben und Zukunft als zum größeren Teil unplanbar und unberechenbar begreifen und annehmen. Dass wir erkennen, dass die Erlösungsformel „Nachhaltigkeit“ uns nicht von unseren Zukunftsängsten befreien kann.

Quelle: UD
 

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