So revolutionieren digitale Technologien den Klimaschutz
Wie Industriebetriebe mithilfe von datengetriebenen Simulationen in ihrer Produktion den Energieverbrauch senken und langfristig klimaneutral arbeiten.
21.07.2021
Von Mathias Kaldenhoff, Partner Innovation Management SAP
Ressourcen schonen, Plastikmüll vermeiden, CO2-Emissionen reduzieren: Nachhaltig zu wirtschaften ist ein zentrales Unternehmensziel – weltweit und auch in Deutschland. Die Bundesrepublik will bis 2030 etwa 65 Prozent weniger Emissionsausstoß erreichen. Industrieunternehmen kommt dabei eine entscheidende Rolle zu, denn laut Bundesumweltamt produzieren sie 15 Prozent der landesweiten Emissionen.
Neben den Vorgaben aus der Politik nimmt auch der Druck seitens Verbraucherinnen und Verbrauchern zu. Laut aktueller Umfrage der Marktforscher von YouGov lassen sich 60 Prozent der Deutschen beim Einkauf von nachhaltigen Gedanken beeinflussen. Knapp die Hälfte der Befragten würde mehr für Produkte bezahlen, deren Verpackung umweltfreundlich ist. Die veränderte Nachfrage beeinflusst wiederum die globale Wertschöpfungskette und alle involvierten Akteure. So beziehen Hersteller notwendige Rohstoffe und Komponenten vornehmlich von Lieferanten, die nachweislich nachhaltig wirtschaften.
CO2-Fußabdruck verkleinern
Zwar lässt sich an unterschiedlichen Stellschrauben drehen, um den ökologischen Fußabdruck der Industrie zu verkleinern und CO2-neutral zu produzieren. Doch fehlt in den Betrieben oft eine datenbasierte Grundlage, die zeigt, wie sich wirtschaftliches Handeln tatsächlich auf die eigene Nachhaltigkeit auswirkt und sich Klimaschutzmaßnahmen weiter optimieren lassen. An diesem Punkt setzt das Forschungsprojekt Climate Solutions for Industries (CS4I) an. Um einen entscheidenden Beitrag zum Klimaschutz zu leisten, entwickeln mehrere Partner – darunter Gerolsteiner, SAP oder das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) – gemeinsam eine Software, mit der Unternehmen künftig nicht nur CO2-neutral wirtschaften, sondern CO2-Emissionen gänzlich vermeiden können. Dabei gilt es zunächst, energieeffizienter zu produzieren und Strom aus regenerativen Energiequellen zu nutzen. Nachfolgend sollen CO2-Emissionen in allen an die Produktion angeschlossenen Bereichen wie Lagerhaltung, Abfallentsorgung oder Transport und Logistik gesenkt werden.
Dabei zielt das CS4I-Projekt darauf ab, Zusammenhänge aufzudecken, die sich oberflächlich nicht erkennen lassen. Mit Simulationen gelingt es, gewonnene Erkenntnisse in konkrete Szenarien zu überführen, wie sich CO2-Emissionen vermeiden lassen. Und dies, ohne die Kosten oder die Sicherheitsrisiken einer tatsächlichen Umsetzung befürchten zu müssen.
Was wäre, wenn …?
Produzieren, ohne dass zu viele Treibhausgase in die Atmosphäre gelangen? Um das zu ermöglichen, bündelt das Forscherteam einzelne Komponenten der beteiligten Partner in einer Softwarelösung. Das Ziel: Den Industriebetrieben konkret aufzuzeigen, wann und wie sie ihren CO2-Ausstoß reduzieren oder sogar gänzlich verhindern können.
Und so funktioniert’s: Zunächst ermittelt die Lösung, wie viel Energie an jedem Punkt der Produktionskette benötigt wird. Dies übernimmt das Energiemanagementsystem der INTENSE AG. Auf Basis der ermittelten Werte startet die Datenanalyse. Das Besondere daran: Anders als bei herkömmlichen Managementsystemen arbeitet die Software nicht mit historischen Daten, sondern greift auf Echtzeitdaten zurück, wertet diese aus und liefert mögliche Prognosen. Die Basis dafür: die Technologieplattform SAP Business Technology Platform (BTP), die schnelle und leistungsfähige In-Memory-Computing-Datenbank SAP HANA sowie sinnvolle Simulationsmodelle. Letztere entwerfen die Experten des Fraunhofer-Instituts. Sie modellieren die Daten mithilfe von künstlicher Intelligenz (KI) und sorgen so für zielgenaue Forecasts.
Grünstrom bedarfsgerecht nutzen
Um während der Simulation die laufende Produktion nicht zu stören, kommt für jede Produktionsmaschine ein digitaler Zwilling (Digital Twin) zum Einsatz. Dafür spiegelt die Software von objective partner AG die Maschine mit allen Standort- und Leistungsdaten in einer eigenen virtuellen Umgebung. Hier lässt sich anhand von Echtzeitdaten simulieren, welche Parameter verändert werden sollten, um die Produktionsabläufe CO2-neutral zu gestalten.
Die Simulationen zeigen beispielsweise auf, welche Stromspitzen auftreten oder, wann nur wenig Energie benötigt wird. Anhand dieser Informationen können die Produktionsverantwortlichen ihren Energiebedarf besser planen und Strom bedarfsgerecht beziehen – etwa von einer Grünstrombörse. Damit sind klassische Stromlieferverträge (Power Purchase Agreements), die über mehrere Jahre laufen und nicht zum tatsächlichen Energiebedarf passen, in Zukunft passé.
Im Partnerprojekt sorgt DIGITAL Renewables für den Strom aus erneuerbaren Energiequellen. Über den Marktplatz des Start-ups finden Produzenten und Abnehmer aus der Industrie schnell und einfach zueinander. Dabei bindet die Onlinebörse vor allem viele kleinere Ökostromerzeuger wie Biogasanlagen oder Wind- und Solarparks ein. Darüber hinaus lassen sich über die Plattform, die ebenfalls auf der SAP BTP und SAP HANA aufsetzt, auch Grünstromzertifikate mit Herstellernachweis erwerben. Das heißt: Produktionsbetriebe können ihre verursachten CO2-Emissionen neutralisieren, indem sie eine entsprechende freiwillige Abgabe leisten. Diese finanziert Klimaschutzmaßnahmen und ist so kalkuliert, dass sie den CO2-Ausstoß des Unternehmens kompensiert.
Energieeffizienter in der Praxis
Soweit die Theorie, die das Forschungsteam auch gleich verprobt – und zwar in einem Prototyp für die Gerolsteiner Brunnen GmbH & Co. KG und deren Lieferanten Döhler GmbH. Der Hersteller und Vertreiber von Mineralwasserprodukten bekennt sich klar zum Klimaschutz und will bis 2030 seinen CO2-Fußabdruck am Hauptsitz in der Eifel im Vergleich zu 2016 um knapp 60 Prozent senken.
Im Rahmen des Forschungsprojekts stellen die Partner nun sowohl die Produktion als auch die Transportwege von Gerolsteiner so auf, dass weniger CO2-Emissionen anfallen. Dafür sammelt die Software alle relevanten Echtzeitdaten der Produktionsmaschinen und wertet sie aus. Die Ergebnisse gelangen unmittelbar zu den im Shopfloor von Gerolsteiner integrierten digitalen Zwillingen der Maschinen, wo sie sich intensiv testen lassen. Greifen die Maßnahmen und versprechen einen geringeren Stromverbrauch, fließen sie in den Live-Betrieb ein.
CO2-Reduktion in allen Branchen
Das Vorgehensmodell funktioniert nicht nur in der Industrie, sondern auch in vielen anderen Branchen. So lassen sich Digital Twins nicht nur für Maschinen, sondern für beliebige Assets installieren. Beispielsweise für Transportmittel entlang der Lieferkette oder für Immobilien. Bei der Datenanalyse dreht sich alles um den Energieverbrauch von Fahrzeugen oder Gebäuden. Dabei lässt sich die Software entweder als eigenständige Lösung nutzen oder in vorhandene Applikationen einbetten, zum Beispiel in ERP- oder Controlling-Systeme.