Hannover Messe: Erster Kühlschrank kühlt mit künstlichen Muskeln
Gerade mal eine kleine Flasche hat Platz im ersten Kühlschrank der Welt, der mit künstlichen Muskeln aus Nickel-Titan kühlt. Aber der Mini-Prototyp, den das Team der Professoren Stefan Seelecke und Paul Motzki Ende April auf der Hannover Messe vorstellt, hat es in sich: Er zeigt, dass die Elastokalorik praxistauglich wird. Diese klimaschonende Kühl- und Heiztechnologie ist weit energieeffizienter und nachhaltiger als die heutigen Verfahren.
10.04.2024
Die neue Technologie, die jetzt in einem kleinen, kompakten Kühlschrank-Prototypen steckt, beruht auf einem verblüffend schlichten Prinzip: Wärme wird aus einem Raum abtransportiert, indem Drähte gezogen und wieder entlastet werden. Die sogenannten Formgedächtnisdrähte aus der superelastischen Legierung Nickel-Titan, auch künstliche Muskeln genannt, nehmen dabei in der Kühlkammer Wärme auf und geben diese außen wieder ab. „Mit unserem Verfahren, der Elastokalorik, erreichen wir beim Kühlen Temperaturdifferenzen von rund 20 Grad Celsius ohne klimaschädliche Kältemittel und weit energieeffizienter als mit den heute üblichen Techniken“, erklärt Professor Stefan Seelecke, der an der Universität des Saarlandes und am Saarbrücker Zentrum für Mechatronik und Automatisierungstechnik (ZeMA) forscht.
Der Wirkungsgrad elastokalorischer Materialien beläuft sich auf mehr als das Zehnfache im Vergleich zu heutigen Klimaanlagen oder Kühlschränken. Das Energieministerium der USA wie auch die Kommission der Europäischen Union deklarierten die Saarbrücker Klimatechnologie bereits als zukunftsträchtigste Alternative zu den bisherigen Verfahren. Sie kann weit größeren Räumen Wärme entziehen als der kleinen Kühlkammer, mit der die Ingenieurinnen und Ingenieure jetzt die Elastokalorik auf der Hannover Messe demonstrieren. Und sie kann auch weit größeren Räumen Wärme zuführen: Der Wärmetransport durch die superelastischen Drähte funktioniert auch als Wärmepumpe. „Auch beim Heizen erreichen wir Temperaturdifferenzen von rund 20 Grad Celsius“, sagt Stefan Seelecke. Vor dem Hintergrund von Klimawandel und Energieknappheit bei zugleich steigendem Bedarf an Kühlung und Heizen ist das Verfahren also vielversprechend.
Um Wärme zu transportieren, nutzen die Forscher die besondere „Superkraft“ der künstlichen Muskeln aus Nickel-Titan: das Formgedächtnis. Drähte dieser Legierung erinnern sich an ihre ursprüngliche Form und nehmen diese wieder an, nachdem sie verformt oder gezogen werden. Ähnlich wie Muskeln werden sie lang und wieder kurz, können entspannen und anspannen. Der Grund hierfür liegt tief im Inneren der Legierung Nickel-Titan: Diese hat zwei Kristallgitter, zwei Phasen, die sich ineinander umwandeln können. Anders als bei Wasser sind die Phasen nicht fest, flüssig und gasförmig, sondern beide fest. Bei diesen Phasenumwandlungen der Kristallstruktur nehmen die Drähte Wärme auf und geben sie wieder ab: „Das Formgedächtnismaterial gibt Wärme ab, wenn es im superelastischen Zustand gezogen wird, und nimmt Wärme auf, wenn es entlastet wird“, erläutert Professor Paul Motzki, der eine Brückenprofessur zwischen der Universität des Saarlandes und ZeMA innehat, wo er den Forschungsbereich „Smarte Materialsysteme“ leitet. Der Effekt wird verstärkt, wenn mehrere Drähte gebündelt werden: Sie nehmen durch die größere Oberfläche mehr Wärme auf und geben mehr Wärme wieder ab.
So simpel das Prinzip auf den ersten Blick scheint, so komplex sind die Forschungsfragen, die zu klären sind, will man damit einen Kühlkreislauf konstruieren. Im Mini-Kühlschrank, den das Forschungsteam jetzt in Hannover vorstellt, sorgt ein speziell konstruierter, patentierter Nockenantrieb dafür, dass Bündel aus 200 Mikrometer dünnen Nickel-Titan-Drähten fortwährend um eine runde Kühlkammer rotieren: „Während sie im Kreis wandern, werden sie auf der einen Seite belastet, also gezogen, und auf der anderen Seite entlastet“, erklärt Doktorand Lukas Ehl, der am Kühlsystem arbeitet. Luft wird an den rotierenden Bündeln vorbei in die Kühlkammer geleitet, wo die Drähte entlastet werden und so der Luft Wärme entziehen. In der Kühlkammer zirkuliert die Luft dann dauerhaft um entlastete Drähte. Beim Weiterdrehen transportieren die Drähte Wärme aus der Kühlkammer heraus und geben sie ab, indem sie außen wieder gezogen, also belastet werden. „Etwa zehn bis zwölf Grad Celsius können auf diese Weise in der Kühlkammer erreicht werden“, sagt Student Nicolas Scherer, der im Rahmen seiner Masterarbeit am Projekt forscht.
Die Saarbrücker Ingenieurinnen und Ingenieure forschen daran, wie der Antrieb die Drähte permanent in Gang hält, wie die Luftströme aussehen, wie die Abläufe am effizientesten sind, wie viele Drähte sie bündeln müssen, wie stark diese idealerweise für eine bestimmte Kühlleistung gezogen werden und vieles mehr. Sie haben auch eine Software entwickelt, mit der sie die Heiz- und Kühltechnik für verschiedene Anwendungen anpassen und Kühlsysteme simulieren und planen können. Und sie erforschen den kompletten Kreislauf von Materialherstellung und Recycling bis zur Produktion.
Allein bei Kühlschränken soll es nicht bleiben. „Wir wollen das Innovationspotenzial der Elastokalorik in verschiedenste Anwendungsgebiete einbringen, etwa in die Industriekühlung, auch in die E-Mobilität zur Kühlung in Elektrofahrzeugen oder den Haushaltsgerätesektor“, erläutert Paul Motzki.
Die neue Technologie ist das Ergebnis aus mehr als einem Jahrzehnt Forschung in mehreren in Millionenhöhe geförderten Forschungsprojekten und in mehrfach ausgezeichneten Doktorarbeiten. Unter anderem die EU und die Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG fördern beziehungsweise förderten die Forschung. Das Bundesforschungsministerium investiert mehr als 17 Millionen Euro im Projekt DEPART!Saar, bei dem die Forscher:innen mit Wissenschaftseinrichtungen und Industriepartnern zusammenarbeiten. Ziel ist, neue Technologietransfer-Formate hervorzubringen und den Weg in den Markt zu beschleunigen. In mehreren Forschungsprojekten und Doktorarbeiten haben die Ingenieur:innen auch einen Kühl- und Heizdemonstrator entwickelt, der kontinuierlich laufen kann und zeigt, wie Elastokalorik Luft kühlen und erwärmen kann.
Auf der Hannover Messe demonstrieren die Saarbrücker Expert:innen für intelligente Materialsysteme die Vielseitigkeit ihrer Formgedächtnis-Technologie auch in Form von smarten Kleinantrieben, energieeffizienten Robotergreifern und weichen Roboterarmen in Form von Elefantenrüsseln.
Hintergrund
Das Forschungsteam von Stefan Seelecke und Paul Motzki nutzt die Formgedächtnis-Technologie für die verschiedensten Anwendungen vom Robotergreifer bis hin zu Ventilen und Pumpen. An der Technologie forschen viele Doktorandinnen und Doktoranden im Rahmen ihrer Doktorarbeiten und sogar auch bereits Studierende mit. Sie ist Gegenstand zahlreicher Veröffentlichungen in Fachzeitschriften und wird in mehreren großen Forschungsprojekten gefördert. Um diese und andere intelligenten Materialsysteme in die Industriepraxis zu bringen, haben die Wissenschaftler aus dem Lehrstuhl heraus die Firma mateligent GmbH gegründet.