Innovation & Forschung

Am Anfang stand nicht Griechenland - Plädoyer für ein neues Geschichtsbild

Mit Globalisierung verbinden Viele Verlustängste und Bedrohung. Aber ist das Phänomen wirklich so neu? Der Berliner Historiker Sebastian Conrad plädiert für ein neues Geschichtsverständnis, das nicht Europa in den Mittelpunkt rückt. Globalisierung wird so zu einem Emanzipationsprozess unterdrückter Kulturen. Für seine wegweisenden Studien erhielt er in 2007 den renommierten Philip Morris Forschungspreis.

07.12.2007

Es heißt, Alexander der Große habe ob der schieren Größe seines Reiches geweint. Er hatte ein Weltreich geschaffen, so die Historiker, das seinesgleichen suchte. Aber stimmt das? In der Tat war Alexanders Reich beachtlich, aber mit Blick auf den Globus doch nur ein kleiner Ausschnitt des Erdballs. Was war mit dem chinesischen Kaiserreich oder dem Reich der Inka-Herrscher? In Quadratkilometern standen sie Alexanders Reich wohl kaum nach, und doch werden sie in der wissenschaftlichen Debatte als nachrangig aufgeführt.
 
Das ist kein Einzelfall und hat Methode: Die Menschheitsgeschichte wurde und wird seit langem als Geschichte Europas und seiner Anrainer beschrieben. Die „Hochkulturen“ fingen an im alten Ägypten, in Griechenland und im Zweistromland. Es folgte der Aufstieg Roms, dann das christliche Mittelalter Mitteleuropas. Die Neuzeit ist bestimmt vom kolonialen Aufstieg, vor allem Englands und Frankreichs, und die Moderne geprägt vom ideologisch-politischen Wettstreit zwischen den USA und Russland. So sind gängige Geschichtsbücher aufgebaut, und so denken sich die meisten Menschen Geschichte. Der Berliner Historiker Sebastian Conrad mahnt jedoch: „Es ist eine zentrale Aufgabe der Geschichtswissenschaft des 21. Jahrhunderts, die Rolle nicht-westlicher Akteure und Perspektiven ernst zu nehmen und einzubeziehen.“ Warum? So eine lineare, vergleichbare Abfolge von Reichen und Herrschern ist bequem, weiß auch Conrad, aber sie wird in keiner Weise der Wirklichkeit - und das beinhaltet dann auch zwingend die Geschichtserfahrung eines Inders, Chinesen oder Afrikaners - gerecht.
 
Europa als Maß aller Dinge?
 
Bis heute herrscht aber in vielen Köpfe eine eurozentrische, Europa-fixierte Betrachtungsweise vor. Diese versteht Geschichte als den Export von europäischen Denkmustern, Konsumgewohnheiten, ihren Moden und Ideen. Metropolen des Südens werden in ihrer Wertigkeit an Europa gemessen. Von Buenos Aires heißt es etwa, es sei das „Paris des Südens“. Kaiser Wilhelm mahnte, am deutschen Wesen möge die Welt genesen. Warum nicht am Wesen der deutlich friedliebenderen Tibeter? Und Buenos Aires ist mehr als nur ein Echo der Alten Welt, sondern mit seiner Mondänität und kulturellen Vielfalt im 20. Jahrhundert vermutlich kreativer und interessanter als Paris. Schlechte Vergleiche also und doch gängige Vergleiche. All jene, die auf Grund dieser Vorurteile glauben, dass die Emerging Markets nur Europa kopieren und uns mit reinem Preisdumping schlagen, haben es immer noch nicht begriffen, was passiert. Sie erleben den Abstieg des Nationalstaates und die Verlagerung von Metropolen als Bedrohung und Verlust: Tatsächlich kann kein einzelner Staat mehr heute durch Marktabschottung, Protektionismus oder gar Beschäftigungsprogramme einen Wirtschaftsstandort sichern. Und dass Shanghai, Mumbai oder Rio de Janeiro heute kulturell, ökonomisch und zunehmend auch politisch wichtiger sind als Kopenhagen oder Hamburg, ist keine Bedrohung an sich, wenn man sich davon verabschiedet, Europa als das Maß aller Dinge anzusehen. Im Gegenteil: Man kann und muss dort lernen, wie Dinge anders und vielleicht sogar besser gemacht werden, um sich selbst zu verbessern.
 
Doch leider vertreten noch immer renommierte (und nicht lernfähige, möchte man sagen) Historiker die These, so berichtet das Magazin der Forschungsstiftung, dass der Kolonialismus eine Notwendigkeit gewesen sei, um den anderen auf die Sprünge zu helfen. Conrad stemmt sich dagegen. Ihm ist klar, dass „wir umdenken müssen, sonst können wir im 21. Jahrhundert die Welt nicht mehr verstehen. Die Globalisierung ist unbestritten. Jeder sieht, dass die Welt sich radikal verändert. Also wäre es nun die zentrale Aufgabe des Faches, in dieser Situation Wissen zur Verfügung zu stellen, das hilft, diese Veränderungen zu verstehen.“ Es geht ihm nicht um einen radikalen Paradigmenwechsel, „sondern um eine Co-Präsenz sich ergänzender Ansätze und Paradigmen.“
 
Sebastian Conrad, Juniorprofessor im Fachbereich Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin, ist ein Vorreiter auf diesem Gebiet. Seit Jahren erforscht er die Geschichte der Globalisierung, ohne sich dabei allein auf eine europäische Sichtweise zu beschränken. Seine Thesen und Erkenntnisse zeigen in einem neuen Licht, wie die Globalisierung die verschiedenen Regionen der Welt schon seit weit mehr als 100 Jahren wirtschaftlich, kulturell und politisch prägt. In Anerkennung dieser bahnbrechenden Arbeit wird er mit dem Forschungspreis 2007 der Philip Morris Stiftung ausgezeichnet.
 
Auf dem Weg zur McWorld?
 
Mit seinem „Projekt Globalisierungswissen“ will er erreichen, dass an Universitäten und Schulen ein anderes Geschichtsbild gelehrt wird, bei dem Europa bewusst nicht als Ausgangspunkt aller moderner Kulturentwicklung gesehen wird. Das Ziel lautet hingegen nachzuspüren, in welcher Weise die europäische und die außereuropäische Welt seit langem miteinander verflochten sind, wie sich europäische Sichtweisen im Ausland und wie sich die Erfahrungen aus der Fremde für die westliche Kultur prägend ausgewirkt haben. Sicherlich hilft ihm dabei auch sein persönlicher Werdegang. Conrad ging in Neu Delhi zur Schule, studierte unter anderem in Japan und analysierte dort Originalquellen in japanischer Sprache.
 
Dabei zeigt sich, dass die Nationalisierung schon im 19. Jahrhundert auch als eine Reaktion auf die zunehmende Verflechtung der Welt gesehen werden kann: Globalisierung führt nicht etwa zur Auflösung des Nationalen. Sogar Techniken der nationalen Identifikation sind zum Teil im kolonialen Kontext entstanden. Der Fingerabdruck beispielsweise, der heute wieder jedem USA-Reisenden abgenommen wird, wurde unter Rückgriff auf lokale Traditionen bereits vor 120 Jahren von britischen Beamten im indischen Bengalen getestet. Dieses Verfahren stieß in Europa zunächst auf Widerstand. Es suggerierte schließlich, dass man Individualität an marginaler Stelle des physischen Körpers festmachen könne. Der Erfolg im kolonialen „Labor“ führte dazu, dass sich diese biometrische Methode innerhalb kürzester Zeit in der ganzen Welt durchsetzte.

In der Gegenwart ist die Abgrenzung zwischen kulturellen Großräumen oder „Zivilisationen“ noch wichtiger geworden als der Konflikt zwischen Nationen. Auch dies ist eine Reaktion auf globale Vernetzung. Während im öffentlichen Diskurs Globalisierung häufig als ein Prozess dargestellt wird, dem kulturelle Besonderheiten zum Opfer fallen, zeichnet Conrad ein anderes Bild: Globalisierung fördert zugleich die Herausbildung kultureller Eigenständigkeit. Am Ende kommt es also nicht zu einer weltweiten Vereinheitlichung, zu einer „McWorld“. Im Gegenteil: Die Moderne hat viele Gesichter, die auf regional sehr unterschiedlichen Vorstellungen und Gesellschaftsformen beruhen.
Quelle: UD
 
Newsletter

Unsere Verantwortung/Mitgliedschaften

Logo
Serverlabel
The Global Compact
Englisch
Gold Community
Deutsches Netzwerk Wirtschaftsethik
Caring for Climate

© macondo publishing GmbH
  Alle Rechte vorbehalten.

 
Lasche