„Das Auto bekommt eine neue Form der Nutzung“
Selbstfahrende Autos und neue Mobilitätskonzepte: Was uns hier in Zukunft erwartet, daran forscht Wolfgang Müller-Pietralla. Er ist Leiter der Abteilung Zukunftsforschung und Trendtransfer der Volkswagen AG und außerdem Mitglied im Zukunftskreis des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Teil sieben unserer Interview-Reihe rund um die Strategische Vorausschau.
11.06.2021
Im Zukunftskreis des BMBF finden ja ganz bewusst unterschiedliche Disziplinen zueinander, um Szenarien zu diskutieren und Trends zu bewerten. Warum ist Forschung zu Mobilitätstrends nicht nur ein Thema für exzellente Ingenieure und Programmiererinnen?
Wolfgang Müller-Pietralla: Mobilitätsforschung ist neben Fragen zu Mobilitätsträgern oder der Verteilung des Transportaufkommens, dem Modal Split, immer auch eine Frage der Kultur, der Technologie und der Politik. Alle Faktoren der STEEP-Analyse (Society, Technology, Ecology, Economy, Politics, d. Red.) stehen damit in Verbindung. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, eine synchrone Forschung zu betreiben. Wenn wir in die Zukunft schauen, müssen wir nicht nur projizieren, wohin sich die Verteilung des Transportaufkommens entwickelt – wir müssen parallel auf das Warum eine Antwort suchen: Welche Rahmenbedingungen sehen wir in der Gesellschaft? Ich möchte gerade für den Mobilitätsbereich betonen, dass die reine Betrachtung des Verkehrs für Zukunftsprognosen nicht ausreicht. Bezogen auf uns Menschen wäre das, um es an einem Beispiel zu verdeutlichen, so, als würden wir nur den Blutdruck messen und ohne sonstige Betrachtung unserer Lebensweise Medikamente verordnet bekommen.
Wie sehen Mobilitätsszenarien der Zukunft für das derzeit – auch in den Debatten des Zukunftskreises – neu verhandelte Verhältnis von urbanen und ruralen Arbeits- und Wohnumfeldern aus?
Müller-Pietralla: Mobilität hat viel mit der Organisation der Städte zu tun, mit der grundsätzlichen Frage, wie Städte funktionieren, wo gearbeitet wird, wo und wie das öffentliche Leben stattfindet. Schon heute sehen wir, dass es nicht ausreicht, den Verkehr zu reorganisieren. Wir müssen zugleich einen langfristigen Städteplan entwickeln, um das Leben in der Stadt menschlicher zu machen und individuelle Gewohnheitsmuster an neue Formen der Mobilität anzupassen. Das bedeutet nicht, das Auto als Verkehrsträger auszuschließen, aber es muss anders integriert werden.
Viele Städte organisieren derzeit den Verkehr neu, versuchen, ihn in radialen, konzentrischen Kreisen von außen nach innen zu reduzieren. Hierfür werden in Zukunft neue „Mobilitäts-Hubs“, also Umsteigepunkte, notwendig, die viel flexibler sind als die heute noch statischen Umsteigemöglichkeiten. Gerade in den Innenstädten mit ihren wertvollen Flächen brauchen wir neue, flexible Möglichkeiten für das Abstellen, Be- und Entladen von Fahrzeugen, sodass die Fahrzeuge perspektivisch in einem dynamischen Zustand betrieben werden.
Wenn wir zudem möchten, dass die Menschen in Zukunft weniger mit dem Auto unterwegs sind, dann müssen wir dafür sorgen, dass die Arbeit näher zu den Menschen kommt. Zugleich muss sichergestellt werden, dass wegen der steigenden Immobilienpreise in Städten eine angemessene Verkehrsanbindung der suburbanen Räume erfolgt – und dass nicht auch hier die Grund- und Bodenpreise mittel- und langfristig unerschwinglich werden. Letztgenannte Entwicklung sehen wir beispielsweise der-zeit in Metropolen wie Hamburg oder München und den jeweiligen Großräumen, wo mehr und mehr Menschen regelrecht gezwungen sind, mit dem Auto unterwegs zu sein. Kurzum: Es wird darauf ankommen, Möglichkeiten sowohl zum ortsnahen genauso wie für noch mobileres Arbeiten zu schaffen, in den Fällen, wo die Art der Arbeit das zulässt.
Wie kann ein führender Fahrzeugbau- und Technologiestandort wie Deutschland sich auch in einer Zukunft behaupten, in der Mobilitätsversprechen sozial anders bewertet werden als noch in den 1970er- oder 1980er-Jahren?
Müller-Pietralla: Für die gesellschaftliche Bewertung müssen wir auch bei dieser Frage Stadt und Land unterscheiden. In ländlichen Regionen dürfte, so meine Prognose, das Auto sei-ne Relevanz auch in den kommenden zehn Jahren behalten. Die große Transformation, die wir in den nächsten Jahren erleben werden, verläuft im urbanen Bereich. Hier geht die Betrachtung weg vom einzelnen Fahrzeug hin zur Operationalisierung des Verkehrs als schwarmartige Flotte. Es geht in Zukunft darum, dass Kommunen, Unternehmen und Gesellschaft gemeinsam dafür sorgen, Mobilitätssysteme, und nicht mehr nur das einzelne Fahrzeug, zu optimieren. Die voranschreitende Digitalisierung wird es uns in Zukunft noch einfacher machen, Fahrzeugflüsse aufeinander abzustimmen und vorausschauend zu simulieren. Zugleich sorgt die Digitalisierung dafür, dass wir uns auf den Straßen anders fortbewegen: Fahrzeuge werden multimodaler, das heißt, in den Fahrzeugen kann besser gearbeitet werden, und wir werden eine noch fließendere Verbindung erleben: vom Roller über das Fahrrad bis zu Bus und Bahn. Städte wie Kopenhagen mit ihrem hohen Niveau an Mobilitätsqualität sind für solche Entwicklungen schon heute Vorbild.
Die Untersuchungen, die wir kennen, zeigen, dass die Bedeutung des vom Individuum selbst gelenkten Fahrzeugs im Vergleich zu Fuß- und Fahrradverkehr in den vergangenen Jahren zunächst um einige Prozentpunkte abnahm, seit dem letzten Jahr im Zusammenhang mit der globalen COVID-19-Pandemie jedoch wieder zunahm – allerdings auf eine neue Art und Weise. Einerseits sagen die Menschen nicht mehr: „Ich muss das Auto unbedingt selber fahren“, sondern sie möchten die Zeit – zum Beispiel als Beifahrerin oder Beifahrer – kreativ nutzen und sich anderen Aufgaben widmen. Und das Auto hat im Zuge der Pandemie eine größere Bedeutung für die Menschen bekommen, weil es als Schutzraum dient. „In meinem eigenen Auto kann mir das Virus nichts anhaben“.
Das Auto wird also nicht verdrängt, sondern erfährt eine veränderte Nutzung
aus unterschiedlichen Motiven.
Mobilitäts-Zukunftsszenarien, die seit Generationen faszinieren, behandeln selbstfahrende Automobile und andere autonome Fahrzeuge. Was sind für Sie neben den hier immer realistischer werdenden Technologien die Hauptaufgaben?
Müller-Pietralla: Wir gehen durchaus davon aus, dass automatisches Fahren ab etwa 2025 auf Europas Straßen, vielleicht sogar weltweit, sichtbar werden wird – in einzelnen Städten eventuell sogar früher. Diese verfügbaren Technologien zunächst im Logistikbereich einzusetzen, spielt für uns eine maßgebliche Rolle: Durch die Verlagerung von geschwindigkeitsreduziertem, autonom gesteuertem Güterverkehr in die Nachtstunden kann es – Stichwort „Timesharing“ – nach und nach unter anderem gelingen, die Rushhour in den Morgenstunden zu entlasten.
Richten wir den Blick auf die nächsten zwanzig Jahre, dann geht es um die Frage „Autonomie von Menschen vs. Autonomie von Maschinen“, und es geht um die für die Klärung dieses Verhältnisses notwendigen Regelungen. Wie und in welchen Stufen werden Maschinen lernen? Auch das Zusammenführen der Verhaltensmuster von uns Menschen und jenen der autonom fahrenden Fahrzeuge spielt eine wichtige Rolle.
Welche grundsätzlichen Entwicklungen dürften für uns als Gesellschaft in Zukunft wichtiger, welche weniger wichtig werden?
Müller-Pietralla: Die Belastung der ökologischen Systeme wird die mit Abstand die größte Menschheitsherausforderung der kommenden Jahrzehnte sein. Hierbei geht es nicht allein um den Klimawandel, den würde ich als Auslöser bezeichnen. Sehr schnell wird es darum gehen, welche mit dem Klima verbundenen Prozesse die Menschheit tangieren werden – denken wir an das Aussterben bestimmter Arten im Ökosystem oder variierende klimatische Zonen. Spannend ist dann die Suche nach technischen Antworten. Der Klimawandel ist menschengemacht, sodass wir auch menschengemachte Antworten benötigen werden, um das, was wir in hundert Jahren verändert haben, in fünfzig Jahren zumindest einigermaßen wieder zu stabilisieren.
Ein zweites Thema wäre für mich ein technischer Aspekt: Das im Zuge der KI-Debatte neu zu verhandelnde Verhältnis von menschlicher und künstlicher Intelligenz. Zentral ist hier die Frage, wo wir auch bei weiter voranschreitender Leistungsfähigkeit von Algorithmen den Menschen als Kontrollinstanz benötigen – nicht unbedingt, weil er fehlerfreier oder besser entscheidet, sondern weil seine Oberhand dem gesellschaftlichen Konsens entspricht. Dieser gesellschaftliche und politische Konsens ist unabhängig von der Qualität der KI, da es am Ende um uns Menschen geht.
Über Wolfgang Müller-Pietralla:
Wolfgang Müller-Pietralla ist seit 2002 Leiter der Abteilung Zukunftsforschung und Trendtransfer bei der Volkswagen AG und bereits seit 2010 als Dozent an der Freien Universität Berlin im Masterstudiengang Zukunftsforschung tätig. Außerdem lehrt er als Gastprofessor am Institut für Transportation Design, Bereich Zukunftsforschung und Trendtransfer an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt in der Erforschung zukünftiger Entwicklungen in Gesellschaft und Technologie sowie deren Übersetzung in Zukunftsbilder.
Über die „Strategische Vorausschau“:
Die Strategische Vorausschau ist für das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ein wichtiges Instrument, um frühzeitig Orientierungswissen über mögliche zukünftige gesellschaftliche und technologische Entwicklungen zu bekommen. Ziel ist es, die richtigen Weichen zu stellen, um künftigen Herausforderungen frühzeitig zu begegnen. Hierfür wurde der sogenannte Zukunftskreis berufen: 16 Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Disziplinen beraten das BMBF hinsichtlich Zukunftstrends. Aber auch den Bürgerinnen und Bürgern bieten die Ergebnisse der Vorausschau eine gute Orientierung für die Zukunft. Mehr Informationen finden Sie hier.