Fertigung ohne Takt und Band
Lange Zeit waren starre Produktionsstrukturen alternativlos, wenn schnelle Durchläufe gefragt waren. Jetzt werden sie obsolet, zeigt ein Trendreport des Fraunhofer IPK. Statt hochintegrierter, fest verketteter Anlagen favorisieren Produktionsfachleute zunehmend modulare Anlagensysteme, die flexibel kombiniert werden.
26.01.2023
Die Effizienz von Serienprozessen und fest verketteten Produktionslinien ist unbestritten. Wenn ein Prozessschritt zuverlässig in den nächsten greift, werden Aufträge in kurzer Zeit abgearbeitet. Aber starre Produktionsstrukturen haben auch Nachteile. Der größte: Es ist aufwendig bis unmöglich, damit kundenindividuelle Spezialaufträge zu realisieren. Die sind in vielen Unternehmen aber längst Alltag, selbst im klassischen Seriengeschäft. Manche Anbieter operieren mit 50 000 Systemprodukten bei jährlichen Wiederholraten von 1,4.
Soviel Agilitätsbedarf macht hochintegrierte Anlagen unwirtschaftlich. Unternehmen, die einen großen Teil ihrer Produkte nur einmal herstellen, nehmen viele Prozessschritte in Handarbeit vor. Umfassende Automatisierung lohnt für sie nicht, sie favorisieren stattdessen kleinere, hochflexible Anlagentechnik. Maschinenbauer und Systemlieferanten reagieren inzwischen auf diesen Bedarf und gestalten Maschinen produktagnostisch: Mit derselben Anlage werden verschiedenste Varianten eines Produkts produziert – oder unterschiedliche Produkte.
Teilautonome Prozessketten bis hin zu selbstorganisierender Produktion
Die Verkettung der einzelnen Produktionsschritte erfolgt informationstechnisch. Eine große Aufgabe, weil dazu Anlagen in Dialog gebracht werden müssen, die von verschiedenen Herstellern stammen oder heterogene Standards verwenden. Das lässt sich zum Beispiel mit IT-Adaptern umsetzen, die die Maschinensteuerung für Vernetzung öffnen. Ergebnis ist idealerweise eine selbstorganisierende Produktion, wie sie das Fraunhofer IPK vorantreibt. Darin kommunizieren und kooperieren sämtliche Fertigungsinstanzen – Menschen, Werkstücke, Maschinen und Werkzeuge – direkt miteinander. So kann zum Beispiel ein Werkstück eigenständig seinen Weg durch die Fertigung organisieren, indem es passende Bearbeitungsressourcen anfragt. Bearbeitungsstationen bieten freie Kapazitäten an oder lehnen ab, wenn ihre Datenlage auf einen Wartungsbedarf hindeutet.
Der Automatisierungsgrad kann je nach Unternehmen sehr unterschiedlich ausfallen. Manche Unternehmen profitieren am meisten von einer digital unterstützten Prozesssteuerung. Diese kann im einfachsten Fall lediglich von einer Station zur nächsten das Wissen darüber weitergeben, um welchen Auftrag es sich handelt, welche Bauteile dazu gehören und wie sie im nächsten Schritt zu bearbeiten sind. Autonomere Ablaufsteuerungen sprechen die Anlagen direkt an, um Prozesse zu orchestrieren. Mit modellbasierten, modularen Konzepten können Prozessschritte dabei in immer neue Abläufe kombiniert werden. So wird die Produktion variabel und kundenindividuelle Fertigung oder schnelle Reaktionen auf Ausnahmesituationen werden mühelos machbar. Das erhöht nicht zuletzt die Resilienz gegenüber Krisensituationen.
Intraprozesslogistik und virtuelle Inbetriebnahme
Auch für die Intraprozess-Logistik sind umfassend automatisierte Lösungen notwendig. Denn wer Takt und Band verlässt, braucht alternative Lösungen, damit das Produkt im Produktionsprozess von A nach B kommt und an jeder Bearbeitungsstation das erforderliche Material bereitsteht. An dieser Stelle kommen zum Beispiel fahrerlose Transportsysteme (FTS) oder Automated Guided Vehicles (AGV) ins Spiel. Sie lassen sich sogar in die Ablaufsteuerung integrieren – die Logistik wird integraler Teil des Produktionsprozesses.
Wenn Produktionsanlagen und andere Shopfloor-Einrichtungen flexibel in immer neue Prozesse zusammengesteckt werden, sollten sich auch die Methoden und Technologien für Pilotierung und Absicherung ändern. Digitale Zwillinge und virtuelle Inbetriebnahme spielen hier eine entscheidende Rolle. Mit ihnen lässt sich prüfen, ob bei einer Neuanordnung jede Maschine an den vorgesehenen Platz passt und die Anordnung sinnvoll ist. Wird ein Prozess neu konfiguriert, kann sichergestellt werden, dass er reibungslos durchlaufen wird. So werden Ausfallzeiten bei Inbetriebnahme und Rekonfiguration gering gehalten.
„Unsere Sicht darauf, was der Produktionsprozess umfasst und wie er zu gestalten ist, wird sich erheblich verändern“, sagt Prof. Dr. h. c. Dr.-Ing. Eckart Uhlmann, Produktionsexperte und Institutsleiter des Fraunhofer IPK. „Die Interaktion mit IT und Logistik erweitert die Aufgabengebiete in der Systemgestaltung. Expertinnen und Experten unterschiedlicher Domänen müssen viel stärker als bisher zusammenarbeiten. Und: Digitale Technologien werden künftig ebenso wie Logistiklösungen Domänenwerkzeuge der Produktionstechnik werden.“
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