Start-ups lieferten dringend benötigte Innovationen
Die Corona-Pandemie hat der europäischen Start-up-Szene offenbar kaum geschadet. Sie erzielte sogar neue Rekorde bei der Einwerbung von Risikokapital, stellte EY fest. Ausruhen sollte sich die Branche aber nicht auf den Erfolgen: Gerade mit Blick auf die USA werden mehr „Unicorns“ benötigt.
24.06.2021
In der Corona-Krise schlug die Stunde vieler Start-ups. In diesen außergewöhnlichen Zeiten waren neue, innovative, schnell umgesetzte und starkes Wachstum versprechende Geschäftsideen gefragt. Genau dies ist laut IHK Berlin die Spezialität von – zumeist im Tech-Sektor angesiedelten – Neugründungen. Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass Start-ups im Zuge der Pandemie Innovationen rund neun bis zehn Tage früher auf den Markt brachten als etablierte Unternehmen, berichtete UmweltDialog zu Beginn des Jahres.
Andererseits verfügen Start-ups meist über wenig Startkapital, erläutert das Gabler-Wirtschaftslexikon. Deshalb werben sie intensiv um externe Finanzierungen – in Form von Risikokapital oder dem Verkauf von Unternehmensbeteiligungen, etwa an Business Angels. Schon im vorigen Sommer befürchtete die damalige baden-württembergische Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) in der FAZ, dass Jungunternehmen nun schlechter an Kredite oder Investorengelder kämen. Branchenverbände waren ebenfalls pessimistisch. Im Deutschen Startup-Monitor (DSM) des Bundesverbands Deutsche Startups (BDS) klagten 43 Prozent der Befragten über Probleme bei der Kapitalbeschaffung. Laut dem IT-Branchenverband Bitkom bangten 47 Prozent der Internet- und IT-Start-ups sogar um ihre Existenz.
Ganz so schlimm kam es dann doch nicht. Gerade erst berichtete Bitkom, dass zwar nach wie vor 16 Prozent der Start-ups eine Insolvenz befürchten. Etwas mehr als die Hälfte der befragten Tech-Unternehmen räumte auch ein, dass die Investorensuche schwerer geworden sei. Zugleich hätten 40 Prozent von der Krise profitiert. 20 Prozent verzichteten sogar auf staatliche Corona-Hilfen.
Die richtigen Antworten auf Corona
Ob die Corona-Krise die Neugründung von Start-ups in Deutschland behindert hat, steht noch nicht fest. Der aktuelle Gründungsmonitor der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) befasst sich noch mit dem Jahr 2019 und verzeichnete 605.000 Existenzgründungen – und damit erstmals seit mehreren Jahren wieder einen deutlichen Anstieg. Covid-19 wird aber wieder für schwächere Zahlen sorgen, prognostiziert die KfW. Allerdings muss das nicht unbedingt die Start-ups betreffen. Denn der Anteil digitaler Gründungen nimmt stetig zu, allein von 2018 auf 2019 um sechs auf nun 28 Prozent.
Die deutschen Start-ups haben die Krise bislang also offenbar recht gut überstanden. Die Prüfungs- und Beratungsgesellschaft EY geht mit Blick auf die europäische Start-up-Szene sogar noch weiter: Sie attestiert ihr in ihrem aktuellen Startup-Barometer neue Finanzierungsrekorde. So viel Risikokapital wie im vergangenen Jahr, nämlich 36,5 Milliarden Euro und damit 17 Prozent mehr als 2019, haben die jungen Unternehmen noch nie eingeworben. Noch stärker als das Volumen stieg die Zahl der Finanzierungsrunden, nämlich um satte 58 Prozent auf knapp 6.700.
Die Rekordzahlen erscheinen zunächst überraschend. Dr. Thomas Prüver, Partner Strategy and Transactions bei EY, nennt Gründe: „In der Corona-Krise sind zahlreiche Herausforderungen für die Wirtschaft noch offensichtlicher geworden – etwa die dringend notwendige Digitalisierung, die Anfälligkeit von Logistikketten oder auch die große Bedeutung der Sicherheit von IT-Netzwerken. Viele Start-ups haben dafür die passenden Lösungen parat. Das hat sie bei Kapitalgebern attraktiv gemacht.“ Ein Trend, der unter anderem auch in Frankreich bestätigt wird: Start-ups hätten besonders von der Beschleunigung der Digitalisierung durch die verschiedenen Lockdowns profitiert, berichtet Le Monde. Die 120 Top-Start-ups des Landes hätten allein im Corona-Jahr 10.000 Arbeitsplätze geschaffen.
Großbritannien ist Start-up-Zentrum
Frankreich ist eine der europäischen Top-Start-up-Regionen. Das attraktivste Land für junge Gründer ist laut EY aber Großbritannien. Fast 14 Milliarden Euro Risikokapital wurden dort vergeben. Mit weitem Abstand folgen dann Deutschland und knapp dahinter Frankreich. Beide Länder brachten es auf jeweils gut 5,2 Milliarden Euro Finanzierungsvolumen. Wobei Deutschland als einziges europäisches Land Rückgänge verzeichnete. 2019 wurde in der Bundesrepublik noch eine Milliarde Euro mehr Risikokapital zugesagt.
Die meisten Start-ups zieht es in die Hauptstädte. Natürlich ist auch im Städte-Ranking die britische Metropole am beliebtesten. Dort wurde mit über zehn Milliarden Euro mehr Risikokapital ausgeschüttet als in Paris (knapp 3,9 Milliarden Euro) und Berlin (etwas über drei Milliarden Euro) zusammen.
Die Anziehungskraft Großbritanniens erklärt Dr. Prüver so: „In Großbritannien hat sich ein Ökosystem aus Start-ups, Inkubatoren und Geldgebern gebildet, das konsequent auf Internationalisierung setzt. London als internationale Finanzmetropole ist hierfür ein gutes Sprungbrett.“ Auch wenn kleinere Standorte wie Wien, Basel oder Helsinki aufholten, bemühten sich auch besonders viele nicht-britische Junggründungen in London um Kapital.
In Deutschland ist Berlin das Start-up-Zentrum. Von den fünf Unternehmen mit den meisten Risikokapitalerlösen kamen vier aus der Spree-Metropole, so auch der Online-Gebrauchtwagenhändler Auto 1 Group, der als Bestplatzierter 255 Millionen Euro einwarb. Das einzige Nicht-Berliner Unternehmen – der Lufttaxi-Entwickler Lilium – landete mit einem Finanzierungsvolumen von 218 Millionen Euro auf Platz 2, gefolgt vom Leih-E-Scooter-Anbieter Tier.
Europa braucht mehr Einhörner
Was bei den deutschen, aber auch den europäischen Start-ups auffällt, ist das eher bescheidene Finanzierungsvolumen. So erlöste lediglich der europäische Spitzenreiter des Start-up-Barometers, die bereits 2008 gegründete italienische Telepass-Group, über eine Milliarde Euro. Das zweitplatzierte Unternehmen, der Versicherer Inigo aus Großbritannien, kam immerhin noch auf 700 Milliarden Euro.
Darin sieht der BDS ein Problem. Die europäische Start-up-Szene drohe immer weiter hinter die USA zurückzufallen, befürchtet der Branchenverband. Als Indikator dafür dient ihm die Zahl der „Unicorns“, das sind Start-ups mit einem Marktwert von mehr als einer Milliarde US-Dollar. „Während in Europa im ersten Quartal 2021 27 neue Unicorns entstanden, waren es in den USA im selben Zeitraum 67“, teilt der BDS mit. Deswegen hat er gemeinsam mit 26 europäischen Start-up-Verbänden einen Aktionsplan erstellt und im Mai 2021 an EU-Kommissarin Mariya Gabriel überreicht. Der Inhalt: ein Maßnahmenpaket zur Stärkung der Start-up-Szene mit dem Ziel, innerhalb von zehn Jahren die Zahl der europäischen Unicorns zu verzehnfachen.
Jährliche Risikokapital-Bilanz
Für das Startup-Barometer untersucht EY seit 2017 jedes Jahr die Einwerbung von Risikokapital durch die europäische Start-up-Szene. Als Datenquellen dienen Unternehmensmitteilungen, die allgemeine Medienberichterstattung sowie einige Online-Start-up-Portale. EY definiert Start-ups als Unternehmen, die in der Regel jünger als zehn Jahre sind.