Wie wird man Lebensunternehmer?
Der soziale Verein Futurepreneur aus Hamburg motiviert und aktiviert seit 2012 Schüler*innen, unabhängig von Noten und Hintergrund, Geschäftsideen strategisch zu entwickeln und in der Praxis umzusetzen. Und dabei zu lernen und zu verstehen, wie ein eigenes „Business“ erfolgreich sein kann. Ein Interview mit Gründerin und Geschäftsführerin Kerstin Heuer.
31.08.2021
Frau Heuer, warum haben wir in Deutschland im internationalen Vergleich zu wenig Gründergeist?
Kerstin Heuer: Unser Schulsystem bietet kaum Handlungsspielräume, es gibt wenig erfahrungsbasiertes Lernen. Reale unternehmerische Erfahrungen fehlen oft und daher ist es schwer, eine unternehmerische Denkweise oder für die Zukunft wichtige Fähigkeiten zu entwickeln und zu trainieren. Zudem fehlt es den Schüler*innen auch an Kontakt und Austausch mit Vorbildern im Umfeld. Außerdem steht uns unsere Mentalität im Wege: Die Deutschen sind zwar Planungsweltmeister, aber Verwalter statt Gestalter. Es überwiegt meistens das ‚Ja, aber…‘, die Risikobereitschaft ist nicht sehr ausgeprägt und die Angst vor dem Scheitern größer, als eine Vision zu verfolgen.“
Viele junge Menschen in Deutschland wissen gar nicht, welche Talente in ihnen schlummern. Das wollen wir ändern.
Fehlt es auch in den weiterführenden Schulen an einem Konzept, wie junge Menschen auf eine berufliche Laufbahn, vielleicht sogar auf eine Karriere als selbständiger Unternehmer, vorbereitet werden?
Heuer: „Es fehlt ein Konzept, wie Jugendliche als Lebensunternehmer*innen und Zukunftsgestalter*innen aktiviert werden können. In der Schulzeit geht es im Wesentlichen darum, Wissen zu konsumieren und wiederzugeben – so funktioniert Lernen aber nicht. Viele junge Menschen in Deutschland wissen gar nicht, welche Talente in ihnen schlummern. Das wollen wir ändern. Wir sehen, dass der Wunsch nach Gestaltung und Mitbestimmung wächst – siehe ‚Fridays for Future‘. Doch es fehlt noch an Mut und den geeigneten Tools für die Umsetzung individueller Ideen.“
Was ist bei der Denkweise eines Unternehmers anders als bei Einstellung, Haltung, Mentalität oder Weltanschauung eines „Unselbständigen“?
Heuer: „Unternehmungslust ist unabhängig von Noten und Hintergrund, das stellen wir immer wieder bei unseren Teilnehmer*innen fest. Mut zum Neu-Denken und zu kreativen Lösungen für die Herausforderungen der Zukunft, Glaube an die eigene Schaffenskraft, Teamgeist und Durchhaltevermögen – das sind Denk- und Handlungsweisen, die junge Menschen in der Welt von morgen brauchen.“
In Ihrer neuen Futurepreneur Academy bilden Sie Coaches aus, die junge Menschen für eine aktive und selbstverantwortliche Lebensgestaltung begeistern wollen. Spontan würde ich sagen: Das kann nur jemand machen, der selbst Gründer war…
Heuer: „Das ist natürlich von Vorteil, aber nicht zwingend erforderlich. Denn den Wunsch nach einer solchen Lebensweise kann im Prinzip erst einmal jede und jeder bei jungen Menschen wecken. Neben unerlässlichen pädagogischen Voraussetzungen wie Einfühlungsvermögen oder Teamleitung kommt es uns bei den Kandidaten auf Eigenschaften wie zum Beispiel die Wirkung auf andere, Fähigkeit zum Teamwork oder Flexibilität im Projekt an. Unerlässlich sind auch Erfahrung mit Jugendgruppen, Neugier und Begeisterungsfähigkeit für die Zielgruppe – den Rest lernen sie bei uns.“
Wie ist das durchschnittliche Profil – Alter, Geschlecht, beruflicher Hintergrund - der von Ihnen ausgebildeten Coaches?
Heuer: „Von Ende 20 bis Ende 50, sehr divers, selbständig, ehrenamtlich in der Jugendarbeit oder fest angestellt, in Teilzeit, Elternzeit oder Schichtarbeit. Es sind Gründer*innen, Unternehmer*innen, Berater*innen, Coaches oder Sporttrainer*innen.
Die Ausbildung zum zertifizierten Coach dauert zehn Tage. Warum glauben Sie, dass das zeitlich ausreicht?
Heuer: „Das ist die Basis, wir begleiten diese Coaches mindestens zwei Jahre, evaluieren alle Projekte, sorgen für Qualitätssicherung und Steuerung. Es gibt regelmäßige Feedbacks und frühestens nach vier Projekten sind die Coaches methodisch sicher. Zertifizierte Coaches erhalten honorierte Projektaufträgevon uns oder Futurepreneur Partnern.“
Unternehmergeist wird nicht im Planspiel gelernt, sondern in der Realität erfahren und eine Begeisterung dafür entfacht.
Wichtiger Baustein der Aus- und Weiterbildung ist der Futurepreneur-Ansatz. Was ist damit gemeint?
Heuer: „Die Grundlage ist, dass wir mit den Jugendlichen ihre Erfahrungs-, Kreativitäts-, Ressourcen- und Kompetenzschätze heben und sie sich dieser bewusst werden. Wir wollen bei ihnen das vorhandene Potenzial ausschöpfen und die unternehmerische Eigeninitiative stimulieren. Unternehmergeist wird nicht im Planspiel gelernt, sondern in der Realität erfahren und eine Begeisterung dafür entfacht. Wie? Ausprobieren, das eigene Handeln reflektieren und immer wieder neu formen und die Ergebnisse in der Praxis testen.“
Was unterscheidet Ihren Ansatz von anderen didaktischen Methoden?
Heuer: „Das Projekt findet in einem kurzen, kompakten Zeitraum statt, die Durchführenden sind keine Lehrer, jeder Teilnehmer entwickelt 25 Ideen, jedes kleine Team entscheidet sich am Ende für eine Idee und einen Plan B. Es werden zwei Gründer*innen pro Projekt als Coaches eingeladen und die Umsetzung in der Praxis erfolgt außerhalb der Schule – auf einem Markt, in einem Einkaufszentrum oder in der Fußgängerzone. Es geht zu 100 Prozent darum, Stärken zu stärken, Vorkenntnisse sind nicht nötig. Die Methodik funktioniert ohne Noten und Hintergrund.“
Wie stimulieren Ihre Coaches konkret die proaktive und zupackende Haltung eines Jugendlichen?
Heuer: „Wir setzen einen ersten starken Impuls: ‚Ich kann etwas, ich bin kreativ und innovativ, ich kann die Ärmel hochkrempeln, habe Lust auf Gestalten und schaffe viel mehr, als ich dachte.‘ Während der Umsetzung ihrer Ideen und in der Praxis lernen die Schüler*innen, wie wichtig es ist, sowohl ein guter Teamplayer als auch selbst entscheidungsfreudig zu sein und Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen. Dabei sind für uns Fehler gleichbedeutend mit Erfahrungen, aus denen sie dazu lernen. Wir wecken die Begeisterung dafür, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen. Wir stiften an, eigene Ideen zu entwickeln und sich mit individuellen Eigenschaften und Kompetenzen dafür einzusetzen, Chancen zu erkennen und zu nutzen. Jugendliche werden wertgeschätzt, sie lernen, unternehmend und unternehmerisch im Wortsinn zu handeln. Danach sind sie offen für neue Chancen und voller Zuversicht für das eigene Potenzial, Lösungen für sich, die Gesellschaft und die Herausforderungen ihrer Zeit mitzugestalten. Diese Projekterfahrung ist eine wichtige Grundlage für ihr Privat- und Berufsleben, gesellschaftliches Engagement, aber letztendlich auch eine wichtige Basis für spätere erfolgreiche Gründungen.“
Neben der Fortbildung zum zertifizierten Coach haben sie zwei weitere Bildungsangebote in Ihrem Programm: Was ist unter einer „Beruflichen Fortbildung“ und einer „Persönlichen Weiterbildung“ zu verstehen? Und was unterscheidet sie?
Heuer: „Die berufliche Fortbildung ist ein zweitägiger Workshop zum Thema ‚Entrepreneurship Education‘, in dem wir Didaktik und Methodik weitergeben. Er richtet sich an Personen, die beruflich beziehungsweise ehrenamtlich mit jugendlichen Gruppen arbeiten und unseren Ansatz eigenständig in ihre Arbeit integrieren wollen. Die persönliche Weiterbildung ist ein eintägiger Workshop für alle Interessierten. An diesem Tag setzen wir uns mit dem Thema ‚entrepreneurial Mindset, Growth Mindset, Futureskills‘ auseinander und der Frage, was das mit mir als Persönlichkeit zu tun hat und wo und wie ich mich weiterentwickeln kann.“
Man kann sich als Coach ehrenamtlich oder beruflich engagieren. Welche praktischen Einsatzmöglichkeiten gibt es für beide Werdegänge?
Heuer: „Zertifizierte Coaches erhalten von uns Einsatzangebote in unseren viertägigen CAMPUSUNTERNEHMER Projekten bundesweit. Nach der kostenpflichtigen Ausbildung zum zertifizierten Coach werden diese Projekteinsätze gestaffelt und – je nach Projekterfahrung – bezahlt. Bildungsenthusiasten, die sich ehrenamtlich bei unseren Projekten engagieren wollen, werden kostenfrei von uns ausgebildet.“
Was ist das wichtigste Ziel Ihres Vereins?
Heuer: Wir möchten erreichen, dass möglichst viele Jugendliche während ihrer Schulzeit an einem unserer Projekte teilnehmen können, denn wir brauchen eine Gesellschaft voller Tatkraft und Gründergeist. Wir müssen neue Antworten auf die großen sozialen und ökologischen Fragen finden. Wir brauchen mehr Menschen, die Fähigkeiten kreativ, selbst- und verantwortungsbewusst, also im besten Sinne gewinnbringend, einsetzen und ihre Ideen leben – egal, ob privat oder beruflich. Um das zu erreichen, kooperieren wir bundesweit mit Futurepreneur Partnern, die wir befähigen, mit unserer Methode lokal Wirkung zu erzielen. Darüber hinaus können wir für jeden und jede, der beziehungsweise die das Thema voranbringen möchte – je nach Zeit, Ressourcen und auch Mut – den passenden Baustein, das passende Modul finden.“
Das Interview führte Jörn Arfs.