Klimaschutz wird konkret – Ökobilanzierung erlebt Renaissance
Klimaschutz ist Staatsräson. Die Einsparziele müssen künftig mess- und steuerbar werden. Das gilt insbesondere für die Wohn- und Baubranche. Ökobilanzen als wissenschaftlich fundierte Datenbasis kommen hier eine besondere Rolle zu. Ein hochkarätig besetztes Symposium des Instituts Bauen und Umwelt (IBU) diskutierte dazu aktuelle und künftige Entwicklungen.
03.11.2021
Die Klimakonferenz im schottischen Glasgow war auch bei der hybriden Fachkonferenz in Berlin das bestimmende Thema. Es gehe darum, die ökologischen Grenzen der Erde zu respektieren, so Dr. Barbara Hendricks, die zwischen 2013 und 2018 Bundesumweltministerin war, in ihrer Keynote. Seit 2019 ist sie ehrenamtliche Präsidentin des IBU und hatte jetzt Corona-bedingt ihren ersten öffentlichen Auftritt in dieser Rolle. „Es ist ein Paradigmenwechsel erforderlich. Wir müssen eine Urbanität schaffen, die lebenswertes Wohnen ermöglicht.“ Nachhaltigkeit in der Stadtgestaltung, so Hendricks weiter, dürfe dabei aber kein Merkmal für gehobenes Wohnen sein, sondern auch gefördertes Wohnen habe ein Anrecht darauf. „Beim Bauen ist das nicht so einfach, dafür braucht es hohe technologische Kompetenz.“ Im Rahmen des EU Green Deals werden künftig genaue Informationen über Ressourceneinsatz und deren Verwendung gefordert. Hendricks: „Das IBU kann hierbei eine wichtige Plattform sein“.
Die Antworten sind komplex
Messbarkeit war auch das Stichwort für Matthias Finkbeiner, der an der TH Berlin das Institut für technischen Umweltschutz leitet. „Wir sind uns einig, dass wir das Klima schützen müssen, aber wie können wir das wissenschaftlich robust messen?“ Die Ökobilanz, so Finkbeiner, sei seit langem als die beste Methode anerkannt. Durch den Blick auf den gesamten Lebenszyklus decke sie vor allem Problemverschiebungen auf. Aber sie löse nicht alle Probleme: Häufig kommt die Kritik auf, dass berechnete Stoffe manchmal als sinnvoll und dann in anderem Zusammenhang wieder als ökologisch schädlich bewertet werden. Finkbeiner: „Es ist kein Fehler der Ökobilanzen, dass die Antworten komplex sind, sondern eher ihre Stärke. Je nach Verwendung müssen Produkte unterschiedlich bewertet werden.“ Zugleich warnte er davor, dass eine komplett emissionsfreie Zukunft eine Illusion bleibe. „Wir müssen reduzieren, wir müssen neue Energie einsetzen, aber ohne Kompensation wird es am Ende auch nicht gehen“, so Finkbeiner. „Wir brauchen andere Kompensationslösungen als wir derzeit haben. Wir müssen das korrekt durchrechnen, sonst werden wir am Ende formell klimaneutral sein, aber dennoch steigen die CO2-Emissionen.“
Keine Daten, kein Auftrag?
Thomas Lützkendorf, Professor für Immobilienwirtschaft am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), lenkte den Blick auf die bestehenden Normen und die „handwerkliche Seite“ der Umweltbilanzierung. Lützkendorf: „Es ist schade, wenn alle von Klimaneutralität reden, ohne entsprechende Nachweise zu liefern.“ Mit Bezug auf die Bau- und Immobilienwirtschaft konkretisierte er: „Wir brauchen geeignete Bauproduktinformationen, um das Wechselspiel zwischen Tiefe und Breite der abzudecken. Der Trend geht eindeutig in die Richtung verbindlicher Antworten.“ Und das hat Folgen für die Hersteller: Wer solche Daten auf Dauer nicht liefere, dessen Produkte können auf Dauer auch nicht mehr verbaut werden. Treiber sei nicht nur der Staat, sondern auch die Finanzwirtschaft. Im Rahmen der EU-Taxonomie hängen nämlich künftig auch Finanzierungskonditionen davon ab. Deshalb müssen entsprechende Umwelt-Produktdeklarationen (EPDs) schneller erstellt werden. „Wir müssen künftig diese Informationen planungsbegleitend bereitstellen.“ Da das für Einzelunternehmen schwierig sei, empfahl Lützkendorf den Weg über branchenspezifische Lösungen und die Möglichkeit des digitalen Ausspielens von maßgeschneiderten EPDs.
Mehr Recycling wagen!
Michael Ritthoff vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie ergänzte in seinem Impulsvortrag die Rolle der Kreislaufwirtschaft. Der Grundgedanke dabei ist, knappe oder zunehmend teurer werdenden Ressourcen durch Recycling und Wiederverwendung zu gewinnen. Ein praktisches Problem im Alltag ist jedoch, dass die Hersteller von Bauprodukten keinen Einfluss auf die Art und Weise haben, wie ihre Produkte ein- und zurückgebaut werden. Viele davon sind außerdem naturgemäß sehr langlebig, so dass deren künftiges Recycling und Techniken dazu heute gar nicht absehbar sind. Schließlich hakt es auch an der Akzeptanz: Der Einsatz von Recyclingmaterial stockt, weil Qualität, Gleichwertigkeit und Produktverhalten oft noch nicht vollständig erforscht sind. Das erzeugt Unsicherheit bei Bauträgern.
Annette von Hagel, Geschäftsführende Vorständin der re!source Stiftung forderte deshalb: „Klimaschutz braucht eine Ressourcenwende“. Erst zwölf Prozent der Baustoffe stammten derzeit aus dem Recycling. Die Europäische Union habe nachgewiesen, dass vor allem im Bau, bei Elektronik, Kunststoff, Lebensmittel und Textilien Verschwendung an der Tagesordnung sei. „Wir können uns eine solche Verschwendung nicht länger leisten,“ so Hagel, die von Hause aus Architektin ist und den Alltag auf Baustellen kennt. Sieben bis zehn Prozent der Baukosten seien auf Materialverschwendung, falsche Planung und falsche Logistik zurückzuführen.
Über die Konferenz
Das Symposium „Guided by the future“ fand aus Anlass des 40-jährigen Jubiläums des IBU als Hybridkonferenz statt. Neben der Einordnung der wichtigsten Entwicklungen rund um Ökobilanzierung bot es auch Raum für Praxisbeispiele, Erfahrungen von Architekten und das Vernetzen über Branchen und Baustoffe hinweg.