Zukunft gilt es zu gestalten, nicht zu erdulden!
Die Zukunft müsse von der Zukunft her gedacht werden, um sie zu gestalten. Das sagt der bekannte Zukunftsforscher Franz Kühmayer aus Österreich. Der Experte in Sachen neue Arbeitswelt vom Zukunftsinstitut in Frankfurt weiß, wie man Gesellschaften und Unternehmen fit für die Zukunft macht. Warum dafür gerade beim Thema Nachhaltigkeit eine andere Kommunikation notwendig ist, erklärt er im Gespräch mit UmweltDialog.
06.07.2023
UmweltDialog: Herr Kühmayer, Sie haben Physik studiert, haben dann in großen Unternehmen in leitenden Funktionen gearbeitet und sind nun Zukunftsforscher. Wie passt das zusammen?
Franz Kühmayer: Weil es ein paar Dinge miteinander kombiniert! Im Physik-Studium erlernt man Eigenschaften, die in anderen Berufen hilfreich sind. Etwa in Modellen zu denken und die Welt in abstrakten Formen zu beschreiben. Auch schadet es nicht, wenn man in der Lage ist, Experimente durchzuführen, um zu schauen, wie sich die Welt unter bestimmten Voraussetzungen verändern kann. Außerdem lernt man systemisch an Dinge heranzugehen; faktenbasiert und rational. Was hält die Welt im Innersten zusammen? Diese Frage zu beantworten, ist der Zweck von Physik. Und das ist ja etwas, was uns als Menschen generell bewegt. Und die Zukunftsforschung im Besonderen.
Der wirtschaftliche Teil meiner Laufbahn hilft mir wiederum, in meiner jetzigen Beratungstätigkeit auch anschlussfähig zu den Themen von Organisationen zu sein. Ich habe international gearbeitet und nicht nur unterschiedliche multinationale Unternehmen, sondern auch Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen von verschiedenen Kontinenten kennengelernt. Insofern ist mein Blickwinkel auf die Welt vielschichtig und nicht eurozentristisch. Dabei stelle ich mir immer die Frage, welche Inputs und Impulse für Unternehmen hilfreich sein können, die wir als Trendforscher geben. An welcher Stelle müssen wir irritieren, um das Denken innerhalb einer Organisation zu verrücken?
UD: Zukunftsforschung ohne valide Daten funktioniert nicht, richtig?
Kühmayer: Das sehe ich so. Es gibt natürlich unterschiedliche Strömungen und Trends in der Zukunftsforschung. Wenn man versucht, bestimmte gesellschaftliche Zusammenhänge zu verstehen, funktioniert das nur faktenbasiert aus der Distanz. Schauen Sie sich die allseits bekannten Megatrends an. Wir schauen hier auf global sichtbare Entwicklungen, die wir über viele Jahre, im Idealfall über Jahrzehnte, hinweg beobachten können.
Außerdem kommt es auch immer auf den spezifischen Blickwinkel auf die Zukunft an. Eine meiner engsten Kolleginnen ist Ernährungswissenschaftlerin. Sie beschäftigt sich daher mit Landwirtschaft, Ernährungstrends und Nachhaltigkeit. In Verbindung mit meiner Unternehmens- und Organisationsperspektive könnte eine gemeinsame Schnittstelle unserer Arbeit zum Beispiel die Frage sein, wie künftig Kantinen in Unternehmen aussehen? Wie und was wird gegessen? Sind sie angesichts von Homeoffice überhaupt noch notwendig?
Da ich mich insbesondere mit der Entwicklung der Arbeit beschäftige, spielt für mich auch das Thema Konnektivität eine entscheidende Rolle. Natürlich verbirgt sich dahinter der Trend der Digitalisierung. Gemeint ist aber etwas Größeres.
UD: Das wäre?
Kühmayer: Wie sind wir miteinander verbunden? Aus kultureller Perspektive etwa. Dabei sind dann Fragen zur Globalisierung relevant. Auch der Demografie-Faktor ist zu berücksichtigen, weil wir auf eine sich verändernde Gesellschaftsstruktur treffen. Oder etwas, das wir Gender Shift nennen. Das Geschlecht wird weniger verbindlich, was wiederum für die Wirtschaft und die Gesellschaft insgesamt weitreichende Folgen haben wird.
In reiferen Gesellschaften verspüren Menschen den Wunsch, dass die Welt sich um sie drehen möge und nicht umgekehrt. Wir nennen das dann Individualisierung als Strömung. Dieses Phänomen hat seinen Ursprung in der Aufklärung und verstärkt sich in unserer Konsumgesellschaft immer mehr.
UD: Es gibt Methoden, sich systematisch mit der Entwicklung von Gesellschaften, Branchen oder Unternehmen auseinanderzusetzen. Etwa die Szenariotechnik. Wie funktioniert das?
Kühmayer: Der erste Schritt ist, nach schwachen Signalen des Wandels Ausschau zu halten. Das sind etwa die Nachrichten, die weit hinten rangieren und die man schnell überliest. Fünf Jahre später würde man aber denken, warum wurde diese Meldung nicht prominenter platziert. Bei der Suche nach schwachen Signalen des Wandels merkt man, dass man davon Unzählige findet; unstrukturiert und zum Teil auch in sich widersprüchlich.
Der zweite Schritt ist dann Ordnung und Struktur in die Fülle von Signalen und Widersprüchlichkeiten zu bringen, diese zu gewichten und aus unterschiedlichen Sektoren miteinander zu kombinieren. Beispielsweise ein Zukunftssignal aus dem Bereich der Wirtschaft mit einem Zukunftssignal aus dem Sektor Gesellschaftspolitik. Aus der Kombination kann vielleicht etwas Größeres entstehen und es zeigt sich eine Zukunftsgeschichte.
Der dritte Schritt ist, dieses Phänomen in unterschiedlichen Varianten zu denken und zu bewerten. Das ist der eigentliche Kern der Szenariotechnik. Wie könnte etwa eine Nachrichtensendung aus dem Jahr 2030 für Szenario 1, 2 oder 3 aussehen? Welche Schlagzeilen und Bilder gibt es? Mit welchen Werkzeugen werden wir arbeiten? Was wird in der Schule gelehrt? Dafür gibt es unzählige Fragen. Im vierten Schritt werden dann konkrete Ableitungen für die Praxis derjenigen gebildet, die sich eine bestimmte Zukunftsfrage gestellt haben.
Das Geschäft des Zukunftsforschers ist es nicht, die Zukunft vorherzusagen. Das ist ein großer Irrtum.
UD: Seit mittlerweile einem Jahrzehnt schlittern wir als Gesellschaft unvorbereitet von einer Krise in die nächste. Entweder funktioniert die von Ihnen beschriebene Methode nicht oder die Entscheiderinnen und Entscheider hören nicht auf die Zukunftsforschung. Was läuft da schief?
Kühmayer: [lacht] Das Geschäft des Zukunftsforschers ist es nicht, die Zukunft vorherzusagen. Das ist ein großer Irrtum. Unsere Idee ist es, systematisch die Möglichkeiten aufzuzeigen und Organisationen und Gesellschaften fit für die Zukunft zu machen. Es wäre furchtbar, wenn wir vorhersagen könnten, wie die Welt 2040 aussieht. Denn dann würde die Entwicklung bereits feststehen, unabhängig von unseren Entscheidungen. Aber unsere Entscheidungen, die wir jeden Tag im Persönlichen, in der Politik, in der Wirtschaft et cetera treffen, machen ja gerade die Entwicklung der Welt aus. Daher lautet die entscheidende Frage: Welche Vorstellung habe ich von der Zukunft und in welche Richtung sollen meine Entscheidungen gehen?
Das, was in den vergangenen Jahren schiefgelaufen ist, ist die Verabschiedung von dem Gestaltungswillen der Zukunft. Momentan fokussieren sich die Verantwortlichen auf naheliegende Themen und versuchen, den Status quo aufrechtzuerhalten, was beklagenswert ist. Nach dem Motto: ‚Das, was uns in der Vergangenheit erfolgreich gemacht hat, wird uns auch zukünftig erfolgreich machen.‘
Ein besserer Denkansatz wäre, die Zukunft von der Zukunft her zu denken.
Ein besserer Denkansatz wäre, die Zukunft von der Zukunft her zu denken.
UD: Was meinen Sie damit?
Kühmayer: Nehmen wir das Jahr 2050. Ich könnte eine Wunschvorstellung über die Beschaffenheit meiner Gemeinde, meiner Region, meines Bundeslandes et cetera entwickeln und mir dann die Frage stellen: Welche gegenwärtigen Maßnahmen muss ich treffen, um dieser Wunschvorstellung näherzukommen? Das hat etwas mit Vision und Vorstellungskraft zu tun. Diesen Auftrag müssen Verantwortliche leisten. Es ist nicht ihre Aufgabe, die Zukunft zu erdulden oder sich zu fragen, wie man sich bestmöglich in der Zukunft bewähren, sondern wie man sie stattdessen gestalten kann. Und das ist in der Vergangenheit zu wenig passiert.
UD: 15-Minuten-Städte, die smart und ‚grün‘ sind, CO2-neutrale Produktionsprozesse, Verkehrs- und Wärmewende: Visionen von einer nachhaltigen Zukunft gibt es zur Genüge. Entsprechende Zielvorgaben bis 2045 untermauern den Anspruch. Wie realistisch sind sie?
Kühmayer: Damit aus diesen Visionen und Zielvorstellungen auch Realität wird, braucht es zwei Dinge: Das Erste ist, tatsächlich Entscheidungen und Handlungen daraus abzuleiten. Aus politischer Perspektive heißt das, dass wir Gesetze, Regeln und Vorgaben gemäß dieser Vision anpassen müssen. Wir können uns den Traum von einer CO2-neutralen Lebensweise in einer intakten, gesunden Umwelt wochen- und jahrelang ausmalen. Solange wir nichts an unserem Verhalten ändern, sind das nur hohle Phrasen. Der zweite entscheidende Faktor ist die Kommunikation. Es muss klar sein, warum meine Zukunftsvision lohnenswert ist. Nur so sind die Entscheidungen, die daraufhin fallen, für die Gesellschaft nachvollziehbar und akzeptierbar.
Beim Thema Nachhaltigkeit kommunizieren Verantwortliche nicht gut genug. Kälter duschen, weniger Urlaub, Fleischverzicht: Anstatt defizitär darüber zu sprechen und nur zu thematisieren, was alles wegfallen wird, sollten die Vorteile einer nachhaltigen Lebensweise und welcher Gewinn damit verbunden ist, benannt werden.
UD: Beim Thema Individualverkehr etwa bekommen wir in Deutschland gleich Schnappatmung, wenn es darum geht, die Freiheiten der Autofahrerinnen und Autofahrer zu begrenzen…
Kühmayer: Das ist bei uns in Österreich nicht anders. Aber anstatt darauf rumzureiten, dass in einem automobilen Kontext die Nachhaltigkeitsziele nicht zu erreichen sind, sollte man positive Aspekte betonen und mit lohnenden Bildern arbeiten: ,Stell dir doch mal vor, wie lebenswert es wäre, wenn dein Kind in einer Stadt auf die Straße laufen und spielen könnte, umgeben von vielen Bäumen und Pflanzen; mit genügend Platz und wenig Lärm.‘ Den Gesellschaften ist nicht damit geholfen, wenn dauernd Partikularinteressen nachgegeben und nicht konsequent genug gehandelt wird.
UD: Transparenz ist allerdings auch notwendig. Denn leicht wird der Wandel in Richtung Nachhaltigkeit nicht.
Kühmayer: ,Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar‘, wie Ingeborg Bachmann so treffend gesagt hat. Es ist Unsinn, wenn Politikerinnen und Politiker den Menschen Sand in die Augen streuen und verkünden, dass weniger Plastiktüten und Lichtsparen reichen, um die nachhaltige Wende zu schaffen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Menschen und soziale Systeme sehr wohl in der Lage sind, gravierende Veränderungen zu meistern.
Wenn man aus der Zukunft zurückschaut, dann fällt einem in manchen Bereichen die Absurdität der damaligen Gegenwart auf, die wir aber aus der Gegenwart heraus nicht wahrgenommen haben. Gerade bei technischen Dingen ist das leicht nachzuvollziehen. Können Sie sich noch an Floppy Disks oder Modems erinnern? Oder die ersten Mobiltelefone? Vor 30 Jahren waren die noch ein Luxusgut und heute besitzt in unserer Gesellschaft fast jeder ein Smartphone.
So wird es uns auch gehen, wenn wir in Zukunft auf den Individualverkehr zurückschauen: ,Stell dir mal vor, noch im Jahr 2020 haben wir einen endlichen Rohstoff aus einem fernen Land per Bohrung gefördert, ihn dann mit Tankerschiffen um die ganze Welt geschippert, danach in kleine Tanks verladen, um damit dann Autos an einer Tankstelle zu befüllen. Die Automotoren hatten einen Wirkungsgrad von maximal 30 Prozent und die restlichen 70 Prozent sind als Abwärme unter Schadstoffbelastung in die Umwelt gegangen.‘
Wir müssen uns die Absurdität unserer aktuellen Wirtschaftsweise ganz plakativ vor Augen führen. Auf diese Weise wird die Notwendigkeit einer nachhaltigen Zukunft deutlich.
UD: Vielen Dank für das Gespräch!
Erfahren Sie im zweiten Teil des Interviews, wie Unternehmen mit Veränderungen umgehen sollten und wie die zükunftige Arbeitswelt aussehen könnte.