Technischer Einsatzzweck bestimmt die Nachhaltigkeitsperformance von Baustoffen
Wie nachhaltig Baustoffe sind, hängt davon ab, in welchem Gebäudekontext sie genutzt werden. Objektive Daten für die Umweltwirkungen der Produkte liefern sogenannte Umweltproduktdeklarationen (kurz: EPDs). Warum das wichtig ist und wie EPDs funktionieren, erklärt Stefan Zwerenz, der die Verifizierungsabteilung im IBU (Institut Bauen und Umwelt) leitet, in einem Gespräch mit UmweltDialog.
11.04.2024
UmweltDialog: Beim Thema „nachhaltiges Bauen“ denken viele an Hanf- oder Holzhäuser. Sie gehen weiter und sagen, dass jedes Bauwerk in puncto Ökologie ganzheitlich betrachtet und jedes Bauteil und jedes Bauprodukt analysiert werden muss. Warum?
Stefan Zwerenz: Da kommt der Ingenieur in mir durch. Ich erinnere mich noch daran, dass ich mich im Studium mit Architekten darüber „gestritten“ habe, dass sich Design dem Funktionszweck von Gebäuden beugen muss und nicht umgekehrt. Eigentlich muss man noch weiter gehen und sagen „everything follows function“. Auf Ihre Frage bezogen bedeutet das, dass man zuerst den technischen Einsatzzweck eines Bauproduktes kennen muss, um eine Aussage über seine Nachhaltigkeitsperformance treffen zu können. Dementsprechend würde ich von vornherein erst mal keinen Baustoff ausschließen oder als besonders nachhaltig hervorheben.
Können Sie das konkretisieren?
Zwerenz: Nehmen wir beispielsweise die Funktion eines Fensters: Da könnte man pauschal sagen, dass die nachhaltigste Variante ein Loch in der Wand ist. Man hätte immer noch eine Sichtverbindung nach draußen und die Luft zirkulierte. Ein Gebäude hat aber noch weitere Funktionen zu erfüllen; etwa die Behaglichkeit der Bewohner zu gewährleisten. Und dafür sind Fenster essenziell. Die lassen nicht nur Licht ins Haus und belüften es, sondern bieten gleichzeitig auch Schutz vor der Witterung. Dann bezieht man die Haustechnik mit ein und schaut, welche Öko-Daten die jeweiligen Verglasungen aufweisen. Auf den ersten Blick könnte die Entscheidung pro Einfachverglasung ausfallen, weil weniger Material benötigt wird als bei einer Zwei- oder Dreifachverglasung. Auf den zweiten Blick – unter Einbeziehung der gesamten Lebensdauer eines jeweiligen Gebäudes – erkennt man aber wahrscheinlich, dass in der Betriebsphase die Dreifachverglasung Vorteile aufweist, da man im Winter weniger heizen und im Sommer weniger kühlen muss. Dennoch kann man nicht pauschal sagen, dass Dreifachverglasungen generell besser sind, weil sie nicht in jedem Gebäude funktionieren. Deswegen ist es wichtig, den jeweiligen Gebäudekontext in Gänze zu betrachten.
Die Daten, von denen Sie gesprochen haben, liefern Umweltproduktdeklarationen, kurz: EPDs genannt. Da diese immer noch nicht allen Leserinnen und Lesern geläufig sind: Was sind EPDs, und warum werden sie immer wichtiger?
Zwerenz: EPDs sind sogenannte Typ III Umweltkennzeichen nach ISO 14025 und sind auf alle Produkte im Bauwerkkontext anwendbar. EPDs machen transparent, welche Grundstoffe mit welchem Energieaufwand in ein Bauprodukt einfließen und welche Umweltwirkungen dadurch entstehen. In Form einer Ökobilanz mit über 35 Indikatoren wird zum Beispiel der Beitrag zum globalen Treibhauseffekt, zum Ozonabbau, zur Versauerung der Böden und Gewässer oder zur Ressourcenverknappung quantifiziert, aber nicht bewertet. Dabei wird im Normalfall der gesamte Lebenszyklus der Bauprodukte bis hin zu Angaben zum Rückbau, der Recyclingfähigkeit und dem Deponiebedarf untersucht.
Politik- und gesellschaftsbedingt ist momentan das Global Warming-Potential beziehungsweise das CO2-Äquivalent der Hauptindikator, auf den geschaut wird. Aber das kann sich natürlich auch ändern, wenn etwa durch viele Dürreperioden das Thema Wasser wieder dringlicher wird. Hier gibt es den Indikator „Frischwasser-Einsatz“.
Die EPDs sind auch wichtig, um zu verstehen, wo die Umweltwirkungen herkommen. Ein Beispiel: Wir haben einen Kunden, der weiß, dass sein Wettbewerber aus Frankreich unter gleichen Bedingungen produziert. Dennoch ist das CO2-Äquivalent in der Produktionsphase, die sehr energieintensiv ist, höher als das des französischen Kollegen. Warum? Weil wir in Deutschland durch die Abschaltung der Atomkraftwerke einen höheren Anteil an Kohleenergie in unserem Strommix aufweisen als Frankreich. Beim Indikator „radioaktive Abfälle“ entstanden wiederum beim französischen Produkt mehr Umweltwirkungen als beim deutschen.
Die Transparenz von Umweltwirkungen entlang des gesamten Produktlebenszyklus kann auch dazu führen, dass verdeckte Risiken sichtbar werden, oder?
Zwerenz: Genau. So hat mir etwa ein Hersteller erzählt, dass er während des EPD-Erstellungsprozesses festgestellt hat, dass in seinem Produktionsprozess fünf Kilogramm Vorprodukte einfließen, am Ende aber nur drei Kilogramm Produkt entstehen. Nachdem er die zwei Kilogramm Produktionsabfälle identifiziert hatte, veränderte er seinen Herstellungsprozess und konnte die Produktionsabfälle vorne in die Rohstoffkette einfließen lassen. Auf diese Weise wurde sein Produkt nicht nur ökologischer, sondern auch ökonomischer.
Lesen Sie hier mehr zum Thema EPDs.
Erfahren Sie in der nächsten Woche im zweiten Teil des Gesprächs, welche Vorteile Bauproduktehersteller haben, wenn sie mit dem IBU kooperieren.