Politik

Der gefährliche Post-Corona-Cocktail

Die Corona-Krise hatte neben vielen anderen Auswirkungen einen interessanten Nebeneffekt: Sie stellte die intelektuelle Unredlichkeit von Rechtspopulisten, Wissenschaftsfeinden und Verschwörungstheoretikern bloß. Doch nun wird in Europa der Ruf nach Lockerungen lauter, immer mehr öffentliche Proteste und Demonstrationen finden statt. Lars Jaeger fasst in diesem Essay die aktuelle Lage zusammen und appeliert an unser Vertrauen in die Wissenschaft.

15.05.2020

Der gefährliche Post-Corona-Cocktail
In Europa gehen immer mehr Menschen auf die Straßen, um öffentlich gegen die politisch verordneten Corona-Maßnahmen zu protestieren.

Von Lars Jaeger

Lange haben es die Menschen bei uns in Europa eindrucksvoll im Lockdown ausgehalten, sind den Anweisungen zum Social Distancing gehorsam gefolgt, haben sich schweigend dem allgemeinen Schicksal der Vernünftigen gefügt. Dabei hat der Corona-Virus etwas geschafft, an dem letztere schon fast verzweifelt waren: die öffentliche Blossstellung der Dummheit und intellektuellen Unredlichkeit der Rechtspopulisten. Jedes Interview und jede Presseerklärung von Donald Trump, jede Twitter-Nachricht von Jair Bolsonaro, jeder Macho-Ausbruch Vladimir Putins und jeder clownshafte Auftritt Boris Johnsons (vor seiner eigenen Infektion) ließen die Menschen in Europa aufatmen, dass sie bei sich zu Hause mit vergleichsweise besonnenem, vernünftigem und integrem politischem Führungspersonal gesegnet waren. Langweilige, weil pragmatische und besonnene Politiker wie Angela Merkel in Deutschland oder Simonetta Sommaruga in der Schweiz (amtierende Bundesrätin), oder auch der jung-dynamische Sebastian Kurz waren ein wohltuender Kontrast zu den narzisstischen und jeder Vernunft entbehrenden Ausbrüchen eines Trumps oder Bolsonaros. Anders als in den USA oder Brasilen, wo „Wutbürger“ - sich auf ihren „Wutpräsidenten“ berufend – schon früh auf den Strassen waren, um ihren Gemütszustand zum Ausdruck zu bringen, waren die Menschen in Europa lange ruhig und warteten ab, wie sich die Pandemie entwickeln würde. Und nun wird immer klarer: Die Europäer erwiesen sich als weitaus erfolgreicher beim Bekämpfen der Pandemie. Während in den USA und dem Vereinigten Königreich die neuen Fall- und Todeszahlen seit mehr als sechs Wochen auf erschreckend hohem Niveau stagnieren und in Russland und Brasilen die Corona-Opfer nach anfänglichen Beteuerungen der Unverwundbarkeit der jeweiligen Bürger sogar immer noch dramatisch ansteigen, scheint Europa über den Berg, zumindest für jetzt. Deutschland, die Schweiz und Österreich sind mit ihren Fallstatistiken wieder dort, wo sie vor den Corona-Maßnahmen waren, und die lange besonders stark gebeutelten Länder Italien, Spanien und Frankreich auf sehr gutem Weg dahin. Es erscheint, dass das Befolgen der Ratschläge der Wissenschaftler, die Besonnenheit der politischen Entscheidungsträger (die den Ratschlägen der Wissenschaftler folgten) und die Vernunft der Bürger im interdemokratischen Vergleich mit England, Amerika, Russland und Brasilien die entscheidenden Vorteile des europäischen Weges in der Corona-Krise darstellen (auf eine Diskussion der Maßnahmen der autokratischen, aber nicht unbedingt populistischen Regierungen in Asien soll hier verzichtet werden).

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Ruf nach Lockerungen in Teilen Europas

Doch auf einmal, nach vielen Wochen des Ausharrens und Warten, erleben wir auch in Deutschland, der Schweiz und Österreich öffentliche Proteste und Demonstrationen gegen die vor Wochen beschlossenen Maßnahmen. Der Erfolg gibt den getroffenen Regierungsbeschlüssen recht, macht sie zugleich aber auch angreifbar. „War doch alles nicht so schlimm“, „Hätte es das wirklich gebraucht?“, „Die Therapie war schlimmer als die Krankheit“ heißt es nun immer mehr. Natürlich entbehren solche Aussagen nicht maßloser Dummheit, oder wie der bekannte theoretische Physiker Wolfgang Pauli sagen würde: Sie sind nicht nur nicht richtig, sie sind nicht einmal völlig falsch. Sie entsprechen Vor-Corona-Aussagen wie „Ist doch nur eine Grippe“ oder „Mich kann es ja nicht treffen“ oder „Wenn es wärmer wird, verschwindet es auf wundersame Weise“, die wir gerade von rechtspopulistischen Machthabern in Amerika, England, Brasilien oder Russland gehört haben. 

Betrachtet wir die Menschen, die nun auf solchen (die Regeln des Social Distancing verletzenden) Demonstrationen ihre Wut herausbrüllen, so erkennen wir unter ihnen bestimmte, immer wiederkehrende und mehr laut- als zahlenkräftige Gruppen: 

  • Rechtextremisten, die den Augenblick nutzen, um ihre Hetze gegen die Regierung, gegen Ausländer und Andersdenkende, gegen Wissenschaft und so ziemlich alles, was nicht in ihr limitierts Weltbild passt, an den Mann zu bringen (es handelt sich hier in den meisten Fällen um Männer) und dabei immer wieder die alte Mär von einer Meinungsdiktatur der Regierung und den Wissenschaftlern von sich geben,
     
  • Anti-kapitalistische Linke, die die Gelegenheit gekommen sehen, um endlich mit einem verhassten Wirtschaftssystem abzurechnen, 

  • Verschwörungstheoretiker, die glauben, dass dunkle Mächte (Bill Gates, chinesische 5G-Technologen, eine heimliche Weltregierung à la Bilderberger oder Freimaurer) ihren eigenen Interessen nachgegen, zulasten der breiten Mehrheit, dem „Volk“, und die daraus ihr eigenes Recht auf Widerstand ableiten, 

  • Esoteriker, die mit ihrem Überwissen auf jenseitige Kräfte hinweisen, auf die wir uns, anstatt staatlichen Anweisungen zu folgen, doch stützen sollen, 

  • Impfskeptiker, die davor warnen, dass die Regierungen ihre Bürger schon bald dazu zwingen werden, sich einen Chip einzusetzen, damit sie uns alle kontrollieren können, 

  • Antisemiten, die den Grund allen Übels, und damit auch für die Corona-Krise, in den Machenschaften einer weltweiten jüdischen Verschwörung gegen Nicht-Juden sehen, 

  • C-Promis, de jede Chance zur Aufmerksamkeit zu nutzen versuchen und sei der Weg noch so dämlich, 

  • Wissenschaftsskeptiker, die mit ihren eigenen Theorien etabliertes Wissen über den Haufen werfen wollen und die Corona-Krise als willkommene Chance sehen, nun die Welt über die abstrusen Produkte ihres Geistes zu informieren, oder die nur „machthungrigen Wissenschaftlern“ ihre Grenzen aufzeigen wollen. Ganz nach der „Logik“: Wir sind in einer Corona-Krise. Nun wird es daher Zeit, endlich mal die Deutungsmacht der korrupten Wissenschaftler zu brechen. So gibt es eine erstaunliche laute Gruppe von Menschen, die, ohne auch nur annähernd die dafür notwendige physikalische Bildung zu besitzen, die Relativitätstheorie widerlegt zu haben glauben oder die scheinbaren Widersprüche der Quantentheorie dazu verwenden, um das Weltbild der modernen Physik grundlegend zu verdammen. In entsprechenden Internetforen zeigt sich hier ein erstaunlicher Überlapp mit „Corona-Skeptikern“.

Fazit

Fakt ist: In Ländern wie Deutschland, der Schweiz und Österreich, ja in jeder Demokratie der Welt, sind Grundrechte derzeit stark eingeschränkt, etwa die Versammlungsfreiheit oder die Freizügigkeit in der Mobilität. Solange sie nicht willkürlich ausgesetzt sind, sondern mit gutem Grund und zeitlich begrenzt, so wie jetzt, steht dies zu 100 Prozent auf dem Boden unserer Verfassungen. Fakt ist auch, dass die Wissenschaftler noch bei weitem nicht alles über das Covid-19 Virus wissen. So ist jede politische Entscheidung auch eine Risikoabwägung. Dass sich dabei im Nachhinein bei klarerem Wissen zeigt, dass die ein oder andere Entscheidung nicht optimal war, liegt in der Natur von solchen Abwägungen. Aber darum darf es nicht gehen. Es entspricht nicht der Methode der Wissenschaften, am Anfang schon alles über einen neuen Gegenstand oder eine neue Erscheinung zu wissen. Vielmehr folgt sie einer Methode, die den Status quo unseres Wissens ständig hinterfragt, so dass wir in einer nicht endenden kritischen Reflexion unseres gegenwärtigen Denkens, Erkennens und Meinens mit der Zeit immer besser Bescheid wissen. Weniger geduldigen, von ihrem eigenen Wissen stets zu 100 Prozent überzeugten oder allgemein von starken Botschaften getriebenen Zeitgenossen ist dieser mühsame Weg, den Dingen auf die Spur zu kommen, nicht leicht zu vermitteln. Was in der Wissenschaft Normalität ist, nämlich, dass jede Erkenntnis innerhalb der Community immer auch angezweifelt und kontrovers diskutiert wird, sorgt bei diesen Menschen für Verunsicherung - und erlaubt es Esoterikern und anderen Fanatikern unter ihnen leider auch, wissenschaftliche Erkenntnisse per se anzugreifen, gerade weil diese nie den Anspruch ewiger Wahrheit mit sich führen. 

Gerade in der gegenwärtigen Krise, in der wir immer noch versuchen den Covid-19-Virus genauer und genauer zu verstehen, stehen wissenschaftliche Ergebnisse immer wieder auf dem Prüfstand und werden dabei auch kontrovers diskutiert. Aber sie geben uns nichtsdestotrotz immer noch die besten Wahrheiten und Richtlinien in dieser schwierigen Zeit. Die aufgezeigten unterschiedlichen Erfolge der verschiedenen Länder in der Corona-Krise haben dies eindrucksvoll aufgezeigt.

Über den Autor

Lars Jaeger hat Physik, Mathematik, Philosophie und Geschichte studiert und mehrere Jahre in der Quantenphysik sowie Chaostheorie geforscht. Er lebt in der Nähe von Zürich, wo er – als umtriebiger Querdenker – zwei eigene Unternehmen aufgebaut hat, die institutionelle Finanzanleger beraten, und zugleich regelmäßige Blogs zum Thema Wissenschaft und Zeitgeschehen unterhält. Überdies unterrichtet er unter anderem an der European Business School im Rheingau. Die Begeisterung für die Naturwissenschaften und die Philosophie hat ihn nie losgelassen. Sein Denken und Schreiben kreist immer wieder um die Einflüsse der Naturwissenschaften auf unser Denken und Leben. Im September 2019 erschien sein neuestes Buch „Mehr Zukunft wagen!“ beim Gütersloher Verlagshaus.

Quelle: UD
 

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