Produktivität in Deutschland: Kein Grund für Pessimismus
Das über einen längeren Zeitraum rückläufige Wachstum der Arbeitsproduktivität in Deutschland ist durch die Abfolge mehrerer, jeweils temporär wirksamer Faktoren erklärbar und nicht als Ergebnis eines dauerhaften Trends zu sehen. Zu diesem Befund kommt ein jetzt veröffentlichtes Gutachten des IfW Kiel im Auftrag von Bundesfinanz- und Bundeswirtschaftsministerium.
30.11.2017
Die Arbeitsproduktivität – das Verhältnis von Wirtschaftsleistung zum Arbeitseinsatz – ist eine der wichtigsten Indikatoren der wirtschaftlichen Entwicklung. Sie verweist sowohl auf die Bestimmungsgründe des Wohlstands als auch auf den Erfolg der wirtschaftlichen Aktivität. In der Praxis erweist sich diese Größe zwar besonders anfällig für Messfehler, diese allein können dem neuen Gutachten des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) zufolge die rückläufigen Zuwachsraten über die letzten 25 Jahre aber kaum erklären. Auffällig ist insbesondere, dass sich die Dynamik der Stundenproduktivität nach den kräftigen Zuwachsraten in den 1990er Jahren seit der Jahrtausendwende spürbar verlangsamte. Insbesondere schien es zunächst so, als ob das Produktivitätswachstum nach der Überwindung der Weltfinanzkrise in den ersten Jahren des laufenden Jahrzehnts nahezu zum Erliegen kam. Dies hatte die Bundesministerien veranlasst, die Gründe für diese Entwicklung wissenschaftlich untersuchen zu lassen.
Für die Entwicklung waren der Studie zufolge vor allem fünf Faktoren maßgeblich: der Aufholprozess nach der deutschen Wiedervereinigung, ein im internationalen Vergleich schwaches Ausmaß der Digitalisierung, die demografische Entwicklung, der sektorale Strukturwandel und das deutsche „Arbeitsmarktwunder“. „Andere häufig genannte Faktoren, wie das Fehlen gut ausgebildeter Arbeitskräfte, das verstärkte Outsourcing bestimmter Tätigkeiten oder die Finanzkrise, spielten dagegen keine nennenswerte Rolle“, sagte Stefan Kooths, Konjunkturchef des IfW und einer der verantwortlichen Autoren der Studie.
Die Aufholprozesse in der ostdeutschen Wirtschaft während der ersten Hälfte der 1990er Jahre verzerren den Zeitvergleich seit der Wiedervereinigung erheblich. Aber auch andere Faktoren haben – zeitlich versetzt – jeweils temporär die Entwicklung beeinflusst. Hierzu zählen die Veränderungen in der Alterszusammensetzung der Erwerbsbevölkerung, die auf den Produktivitätsfortschritt in den 1990er Jahren fördernd, in den frühen 2000er Jahren hingegen dämpfend wirkten, erklärten die Forscher.
Besonders stark hat der Studie zufolge die nach der Jahrtausendwende einsetzende Lohnzurückhaltung und die dadurch ermöglichte hohe Beschäftigungsdynamik zu rückläufigen Zuwächsen der Produktivität beigetragen. Gleichzeitig ist aber die Arbeitslosigkeit deutlich gesunken. „Die Lohnzurückhaltung im Zusammenspiel mit den Arbeitsmarktreformen der frühen 2000er Jahre hat die Effekte der vorangegangenen Entlassungsproduktivität wieder rückgängig gemacht. Das damit vorübergehend einhergehende niedrigere Produktivitätswachstum ist letztlich ein Ausweis erfolgreicher Wirtschaftspolitik und kein Grund zur Besorgnis“, sagt Kooths.
Im Ergebnis lässt sich der seit der Wiedervereinigung rückläufige Produktivitätsfortschritt auf ein Zusammenspiel multipler und im Zeitverlauf unterschiedlich bedeutsamer Faktoren zurückführen. Das Gutachten gibt deshalb Entwarnung mit Blick auf eine befürchtete dauerhafte Produktivitätsschwäche in Deutschland. „Es gibt keinen Anlass für einen säkularen Produktivitätspessimismus. Den Abgesang auf den Produktivitätsfortschritt, der zuweilen zu hören war, können wir nicht nachvollziehen“, sagte Kooths. Dies bestätigt auch die jüngste Entwicklung. Nach Datenrevisionen der Statistikämter und neu hinzugekommenen Beobachtungen weisen die Produktivitätszuwächse bereits seit mehreren Jahren wieder nach oben.