„Ländliche Regionen brauchen Innovatorinnen und Kümmerer.“
Land- oder Stadtflucht? Wie sich urbane und rurale Lebensräume in Zukunft entwickeln werden, erforscht Prof. Dr. Dr. Martina Schäfer. Als Mitglied des Zukunftskreises des Bundesministeriums für Bildung und Forschung sammelt sie im Rahmen der strategischen Vorausschau mit weiteren Expertinnen und Experten Orientierungswissen über mögliche zukünftige gesellschaftliche und technologische Entwicklungen. Das Ziel: Weichen zu stellen, um Herausforderungen frühzeitig zu begegnen. Teil sechs unserer Interview-Reihe.
28.05.2021
Wie bewerten Sie die Entwicklungspotentiale urbaner und ruraler Lebensumfelder? Werden wir „mehr Grün in der Stadt“ oder „mehr Stadt im Grünen“ erleben?
Prof. Dr. Dr. Martina Schäfer: Ich denke, es gibt für beide Trends Anzeichen. Konzepte nachhaltiger Stadtentwicklung sehen natürlich einerseits mehr Grün vor, und ich denke, gerade durch die Pandemie-Erfahrung hat sich gezeigt, wie wichtig es ist, im nahräumlichen Umfeld Zugang zu Erholungs- und Ausgleichsflächen zu haben. Das ist insbesondere in jenen Quartieren wichtig, in denen die Bewohnerinnen und Bewohner aufgrund ihrer sozioökonomischen Lage zum Beispiel auf Balkone oder Gärten verzichten müssen. Mehr Grünflächen sind zudem wichtig, um den Folgen des Klimawandels, konkret der Aufheizung innerstädtischer Gebiete, zu begegnen. Durch ganz unterschiedliche Maßnahmen kann hier „mehr Grün in der Stadt“ Realität werden, ob nun durch Fassaden- und Dachbegrünung, Urban Agriculture, Urban Gardening oder traditionellere Parks.
Und wie lässt sich die Bewegung in die „andere“ Richtung beschreiben?
Schäfer: Aus wissenschaftlicher Perspektive muss man zunächst festhalten: „Land“ ist nicht gleich „Land“. Wir können in Deutschland ländliche Räume mit sehr unterschiedlichen Charakteristika unterscheiden. Bisher war vor allem die Entfernung zu den Ballungsräumen entscheidend dafür, ob es Zuzug aus den Städten gibt. Für den statistisch erfassten Beobachtungszeitraum bis 2018 sehen wir einen verstärkten Zuzug in jene ländlichen Gebiete, die im näheren Umfeld von Städten liegen. Gebiete, also, wo die Pendlerzeit in etwa eine Stunde beträgt. Nicht erst durch Corona, sondern bereits in den letzten zwei bis drei Jahren, ist durchaus ein stärkerer Wunsch, aufs Land zu ziehen zu beobachten. Ein pandemieunabhängiger Faktor hierbei: die gestiegenen Immobilienpreise in Stadtlagen.
Wie werden sich ländliche Regionen vor dem Hintergrund der verstärkten Remote- beziehungsweise virtuellen Arbeit entwickeln?
Schäfer: Seit Jahren wird diese Frage untersucht. Die Erwartung, dass Remote-Work-Lösungen im größeren Maßstab Realität werden, hat sich – zumindest in der Vergangenheit – nicht in stärkerem Ausmaß bewahrheitet. Gerade jene Personengruppen, die Homeoffice-Lösungen nutzen und ortsunabhängig arbeiten könnten, arbeiten bislang eher in den Kreativberufen und brauchen oder suchen für ihre berufliche Entfaltung ein entsprechend lebendiges Umfeld. Es spielen außerdem weitere Faktoren eine Rolle, die in ländlichen Regionen teilweise nicht gegeben sind: eine ausreichende Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur und Angebote an Freizeitaktivitäten. All jene Faktoren also, die neben finanzierbarem Wohnraum für Familien entscheidend mit Blick auf die Frage sind, ob man wirklich aufs Land zieht.
Ein weiterer Aspekt betrifft die technische Infrastruktur. Ein Blick in den Breitbandatlas 2019 zeigt: In städtisch geprägten Ortslagen, Gebieten also mit mehr als 500 Einwohnern pro Quadratmeter, haben mehr als 99 Prozent der Nutzerinnen und Nutzer schnelles Internet, also mindestens 16 Megabits pro Sekunde, zur Verfügung, in ländlicheren Gemeinden hingegen nur 80 Prozent. Der Unterschied mag zunächst nicht groß erscheinen, nimmt man bestimmte Regionen heraus, fallen aber auch 30 Jahre nach der Deutschen Einheit weiterhin insbesondere Unter-schiede zwischen Ost und West auf. Die Technologie alleine wird es allerdings auch nicht richten. Wir brauchen die Innovatorinnen und Kümmerer, wie ich sie nenne. Menschen, die das Thema voranbringen und vor allem andere Menschen für neue Lösungen begeistern. Und wir brauchen Unterstützung aus der regionalen und kommunalen Verwaltung.
Welche positiven Zukunftsvisionen könnte man generell für ländliche Regionen ableiten?
Schäfer: Eine Chance für den ländlichen Raum sehe ich darin, dass hier mitunter ganz andere Dinge aus-probiert werden können als in der Stadt. Wenn man allein den Erhalt ländlicher Räume in den Blick nimmt, ist es natürlich wünschenswert, wenn in jenen Regionen, die von starken Abwanderungstendenzen betroffen sind und in denen hinsichtlich der demografischen Entwicklung ältere Bevölkerungsgruppen dominieren, eine stärkere Durchmischung stattfindet. Zum Beispiel eben durch Zuzug von Städterinnen und Städtern. Denken wir allein an Perspektiven für Unternehmensneugründungen und die Schaffung von Arbeitsplätzen in der Fläche. Ein stärkerer Zuzug würde es dann lohnenswert machen, Schulen und Bildungseinrichtungen zu erhalten und die ländliche Infrastruktur im Gesundheitswesen und dem Kulturbetrieb nachhaltig sichern. Worauf wir bei all dem immer achten müssen: Gemeinschaft muss sich entwickeln, und es darf kein Neben- oder gar Gegeneinander von Alteingesessenen und Zuzüglern entstehen, hier braucht es Offenheit von beiden Seiten! Die Gestaltung dieses Miteinanders ist eine weitere ganz wichtige Aufgabe für kommunale Entscheidungsträgerinnen und -träger. Es muss also kommuniziert wer-den: Zuzug bringt uns allen etwas, wenn wir dadurch öffentliche Infrastruktur erhalten und ausbauen können und unser Lebensumfeld attraktiver wird. Wenn wir hier sich bietende Möglichkeiten beherzt nutzen, sehe ich realistische Chancen, in ländlichen Räumen regelrechte Experimentierräume für zukünftige Lebens- und Wirtschaftsmodelle zu schaffen.
Welche grundsätzlichen Entwicklungen dürften für uns als Gesellschaft in Zukunft wichtiger, welche weniger wichtig werden?
Schäfer: Wir werden global weiter zusammenwachsen beziehungsweise voneinander abhängig sein, ob das nun Fragen des Klimaschutzes angeht, den Erhalt von Biodiversität oder den Zugang zu gesunden und ressourcenschonend produzierten Lebensmitteln. Eine Vorreiterposition in diesen Fragen einzunehmen, ist äußerst sinnvoll, Abschottung gerät mittel- und langfristig an ihre Grenzen. Derzeit scheint die soziale Spaltung zwischen Arm und Reich weiter voranzuschreiten, sowohl im globalen Kontext als auch innerhalb Deutschlands und Europas. Daran, ob es uns gelingt, hier sehr wirksam und strukturell entgegenzuwirken, wird sich entscheiden, ob wir in Zukunft friedlich miteinander leben werden.
Über Prof. Dr. Dr. Martina Schäfer:
Prof. Dr. Dr. Martina Schäfer promovierte sowohl in Soziologie als auch in Umwelttechnologie an der Technischen Universität Berlin. Seit 2010 ist sie wissenschaftliche Geschäftsführerin des Zentrums Technik und Gesellschaft der Technischen Universität Berlin und seit 2015 außerdem Sachverständige in der Enquete-Kommission des Landes Brandenburg „Zukunft der ländlichen Regionen vor dem Hintergrund des demografischen Wandels“. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Nachhaltigkeit in den Bereichen Regionalentwicklung, Konsum und Landnutzung sowie Methoden der inter- und transdisziplinären Forschung.
Über die „Strategische Vorausschau“:
Die Strategische Vorausschau ist für das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ein wichtiges Instrument, um frühzeitig Orientierungswissen über mögliche zukünftige gesellschaftliche und technologische Entwicklungen zu bekommen. Ziel ist es, die richtigen Weichen zu stellen, um künftigen Herausforderungen frühzeitig zu begegnen. Hierfür wurde der sogenannte Zukunftskreis berufen: 16 Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Disziplinen beraten das BMBF hinsichtlich Zukunftstrends. Aber auch den Bürgerinnen und Bürgern bieten die Ergebnisse der Vorausschau eine gute Orientierung für die Zukunft. Mehr Informationen finden Sie hier.