Politik

Ostritz - eine Stadt, die die Hoffung nicht aufgeben will

In vielen Regionen Ostdeutschlands kann von blühenden Landschaften keine Rede sein. Nach der Wende kam der industrielle Kahlschlag. Nach dem Kahlschlag oft nur Hartz IV. Ostritz an der Neiße ist so eine Stadt. Aber dort hat man die Hoffnung nicht aufgegeben: Dank nachhaltiger Energieprojekte schaut die Gemeinde heute hoffnungsvoller in die Zukunft.

24.08.2005

Minutenlang starrt Bernd Dittrich aus dem Fenster. Nur einen Katzensprung von hier ist es passiert. Er sieht, wie dicke Wolken aus Staub, Ruß und Schwefel gelb-giftig aus den gigantischen Schloten von Hagenwerder und Hirschfelde quellen. 16 Tonnen sind es aus Hagenwerder. Pro Stunde. Von Osten kommt dieselbe ätzende Fracht aus dem polnischen Braunkohle-Großkraftwerk Turow. Mitten durch das 3.000-Seelen-Dorf Ostritz wabert die Neiße, ein ungenießbarer Abwasser-Cocktail, zusammengemixt von der Textilindustrie flussauf- und flussabwärts. Ungeklärte Altlasten, Waldsterben, Luftverschmutzung: Lässt sich das irgendwo besser begreifen als hier, am Zipfel von Sachsen?
 
Mit einem Ruck drückt Dittrich seinen Bürostuhl vom Schreibtisch zurück. Reibt sich durch sein Gesicht, als wolle er einen Albtraum verscheuchen. Hagenwerder, Hirschfelde? Historie! Ostritz, gelegen in der Oberlausitz zwischen Görlitz und Zittau in Nachbarschaft zu Polen und Tschechien, hat die Kurve gekriegt. Und der stille Bernd Dittrich mit ihr. Bis zur Wende war er Ingenieur in Hagenwerder. Nun ist er Herr über das Holz. In seinem Reich duftet es nach Sägespänen und gehäckselten Tannen. Aus Wald macht Dittrich Wärme. Er ist Leiter des Biomasse-Heizkraftwerks von Ostritz, das vom Öko-Saulus zum Öko-Paulus bekehrt wurde.
 
Neubeginn im "Schwarzen Dreieck"
 
Einer der Missionare ist Günter Vallentin, 51 Jahre alt, hoch aufgeschossen mit ruhigen braunen Augen hinter großen Brillengläsern. Der Landrat von Löbau-Zittau ist nach der Wende Bürgermeister von Ostritz. Es geht ihm wie vielen Ostritzern: Er hat die Nase voll von der stinkenden Neiße, vom sauren Regen, von der schwarzen Ascheschicht auf Haaren und Kleidung nach jedem Spaziergang, die so schlecht wieder runter zu kriegen ist. 
 
Die Öko-Wende beginnt für Ostritz Ende 1989 - und hat ihre Schattenseiten. "Die ansässige Industrie hatte nach dem Zusammenbruch der DDR keine Chance," sagt Vallentin. Zwei Jahre  halten die Betriebe unter den Bedingungen der freien Marktwirtschaft durch. Danach hat Ostritz 450 Arbeitslose. Und nun? Die Bürger wollen ihre Stadt vom Kopf auf die Füße stellen. Machen Pläne, wie Ostritz aussehen soll, vom Kanalnetz bis zum Bebauungsplan. Auch eine Studie zum Energiebedarf wird in Auftrag gegeben. Damit geht es los: Neubeginn im so genannten "Schwarzen Dreieck".
 
Die von Schadstoffen geplagten Ostritzer beschließen, die alten Staustufen der Neiße wieder zu aktivieren, um Strom zu erzeugen. Damit kommt ein Stein ins Rollen. Wenn das Kloster Sankt Marienthal in Ostritz, in dem seit über 770 Jahren Zisterzienserinnen leben, einen ertragreichen Weinberg hat - dann muss ja wohl genügend Sonne da sein, um Energie zu gewinnen. Und warum soll man nicht die böhmische Brise und den nachwachsenden Rohstoff Holz nutzen, um Ostritz Licht und Wärme zu geben?
 
Energie-Vorreiter Ostritz
 
Inzwischen versorgen vier Windräder, zwei Staustufen der Neiße, unzählige Solardächer und ein Biomasse-Heizkraftwerk den Ort mit Strom und Wärme aus erneuerbaren Energiequellen. Das Abwasser wird in einer Pflanzenkläranlage auf einem Hügel über dem Kloster sauber. Der Wald, der 1990 zu achtzig Prozent geschädigt war, ist aufgeforstet. Selbst aus Pflanzenöl wird in Ostritz Strom.
 
Das Herz der energieökologischen Modellstadt schlägt in der Nähe des Bahnhofs. Hier steht das Biomasse-Heizkraftwerk, aus dem die Wärme durch Fernleitungen unter Asphalt und Pflastersteinen in die Haushalte kriecht. Unscheinbar, klein und fast unecht: ein Kraftwerk ohne Lärm und Dreck. Gerade mal drei Männer überwachen den Betrieb. Holz hat Hochkonjunktur im Zittauer Gebirge. Die Forstwirte liefern regelmäßig Abfälle, aus den Schreinereien und Sägewerken der Umgebung kommen ganze LKW-Ladungen. "Bei der Verbrennung von Holz entsteht nur so viel Kohlendioxid, wie die lebende Pflanze vorher gebunden hat", sagt Leiter Bernd Dittrich. "Das ist ein ausgeklügelter Kreislauf auf der Basis nachwachsender Rohstoffe." 270 Haushalten liefert das Biomasse-Heizkraftwerk Wärme und Warmwasser. Neben den zwei Holzkesselanlagen gibt es ein mit Pflanzenöl betriebenes Blockheizkraftwerk und einen Ölkessel, der mit Heiz- oder Pflanzenöl gefeuert wird und einspringt, falls das Holz mal nicht ausreicht. 
 
Dittrichs Computer verrät auf einen Blick, falls es irgendwo in der Stadt hakt. Doch bislang arbeitet das Bio-Kraftwerk mit seinen Spezial-Filtern ohne größere Probleme. "Ohne die Unterstützung der Deutschen Bundesstiftung Umwelt wäre das nicht möglich gewesen", sagt Dittrich, "dafür sind Fernwärmeleitungen einfach zu teuer." Die Osnabrücker Stiftung hat den Aufbau der energieökologischen Modellstadt mit fast zwölf Millionen Euro unterstützt. Inzwischen macht das Muster Schule; in der Umgebung wachsen nicht erst seit der Teilnahme an der EXPO 2000 in Hannover Nachahmerprojekte heran.
 
Kreativität gegen die Krise
 
Dennoch: Ostritz ist noch nicht über den Berg. 120 Dauer-Arbeitsplätze haben der Ausbau zur Modellstadt und die Einrichtung eines Internationalen Begegnungszentrums (IBZ) im Kloster Sankt Marienthal gebracht, doch das reicht nicht. Tausend Menschen sind seit 1990 aus Ostritz weggegangen, ein Viertel der Bevölkerung. "Die Grundschule musste mangels Schülern geschlossen werden, nun ist die Mittelschule in Gefahr", sagt Josefine Schmacht, auf deren Visitenkarte "Ortschronistin von Ostritz" steht. Die Sorge ist ihr anzusehen. Aber Ostritz wäre nicht Ostritz, wenn es sich so leicht unterkriegen ließe. Gemeinsam mit der polnischen Nachbarstadt jenseits der Neiße hat die Stadt ein Konzept für eine Grundschule umgesetzt, an der deutsche und polnische Schüler gemeinsam lernen sollen. Der Clou: Umweltschutz soll auf dem Stundenplan stehen. Einen deutsch-polnischen Kindergarten gibt es schon. Damit der Weg von hüben nach drüben künftig kürzer wird, läuft die Planung für einen Brückenschlag über die Neiße.
 
"Wir sind auf kreative Lösungen angewiesen, um die massiven Folgen von Geburtenrückgang und Abwanderung abzufedern", sagt Vallentin. "Wir exerzieren im Schnelldurchlauf vor, was der deutschen Gesellschaft insgesamt bevorsteht." Auch darin ist Ostritz Vorbild. Doch alles Engagement der Bürger nütze nichts, wenn der Bund den Kommunen enge Grenzen setze: "Hartz IV erwartet von jungen Leuten bundesweite Flexibilität bei der Jobsuche", sagt der Landrat, "das könnte sich wie ein Wegzugsprogramm auswirken."
 
Hoffen auf Tourismus
 
Trotz der hohen Arbeitslosigkeit sehnt sich kaum ein Ostritzer  nach Braunkohle und Textilindustrie zurück. "Wir haben die Eingriffe  in die Natur jeden Tag am eigenen Leib erlebt. Wir wollten endlich eine bessere Lebensqualität", sagt Vallentin ernst. "Dass wir 1989 auch für Umweltschutz auf die Straße gegangen sind, wird heute oft vergessen." Die Ostritzer hoffen auf Touristen. Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass es im Neißetal romantisch ist. Immer mehr Radwanderer aus Deutschland, den Niederlanden oder Skandinavien kommen hierher. 15.000 Übernachtungen verzeichnete allein das Kloster Sankt Marienthal im vergangenen Jahr. Viele der Gäste kehren zurück: In der Oberlausitz herrscht kontinentales Klima, die Sommer sind warm, im Winter lockt der Schnee im Zittauer und im Isar-Gebirge zum Skilaufen. Die typischen historischen Umgebindehäuser der Region werden nach und nach auf Vordermann gebracht. Aus dem "Schwarzen Dreieck" ist ein "Rotes" geworden: Achtung, hier geben sich Menschen nicht auf. Kurz: Ostritz putzt sich heraus. Die Menschen hier geben nicht auf.                   
Quelle: UD
 
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