Politik

Deutschland - ein Niedriglohnland?

Warum ist die Arbeit in Deutschland immer weniger wert und wer trägt die Schuld daran? In der Sondersendung des WDR "Ist mein Lohn gerecht? Was Arbeit noch wert ist" suchten die Moderatoren Jörg Schönenborn und Anna Planken nun gemeinsam mit Ihren Studiogästen nach Antworten. Zu Gast im Studio war auch Prof. Dr. Stefan Sell - Arbeitsmarktexperte und Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften am RheinAhrCampus in Remagen.

30.03.2010

Bild: TU Berlin
Bild: TU Berlin
Mehr als jeder fünfte Arbeitnehmer in Deutschland ist im sogenannten Niedriglohn-Sektor beschäftigt, Tendenz steigend. Damit steht Deutschland an der Spitze Europas und erreicht fast das Niveau der USA. Dabei sind es nicht immer nur Geringqualifizierte, die von den niedrigen Löhnen betroffen sind. Im Gegenteil: Arbeitnehmer im Niedriglohn-Sektor sind in der Regel gut ausgebildet. Fast 80 Prozent von ihnen haben eine Berufsausbildung abgeschlossen, viele sogar einen Studienabschluss. Daher ist es kein Wunder, dass viele Berufstätige das Gefühl haben, ihre harte Arbeit sei nichts mehr wert. Obwohl sie in Vollzeit arbeiten, reicht das Geld zum Leben nicht aus und sie sind auf zusätzliche staatliche Unterstützung angewiesen.

Der Niedriglohnsektor, der als Sprungbrett von der Arbeitslosigkeit in eine Beschäftigung mit dem anschließenden Aufstieg in besser bezahlte Jobs dienen sollte, war politisch gewollt. Doch die eingeladenen Experten kritisierten die Zahlung von Niedriglöhnen stark. Nur etwa jeder achte Beschäftigte schafft den Sprung vom Niedriglohn zum gerechten Gehalt. Das Arbeitnehmer neben ihrem Gehalt zusätzlich auf eine staatliche Aufstockung angewiesen sind, nutzen viele Arbeitgeber aus. "Die Arbeitgeber sozialisieren ihre Kosten auf Kosten der Steuerzahler", so Prof. Dr. Sell. Hier sei die Politik gefordert, durch die Einführung von Mindestlöhnen und Allgemeinverbindlichkeitserklärungen Abhilfe zu schaffen.
 
Auch wir Verbraucher sind gefordert, stellte Moderatorin Anna Planken fest. Denn wir sind immer weniger bereit, einen angemessenen Preis für die in Anspruch genommenen Leistungen zu zahlen. Beim Frisör freuen wir uns über Dumpingpreise ohne daran zu denken, dass zu diesem Preis eine angemessene Entlohnung der Friseure nicht möglich ist. Doch wie kann ich erkennen, ob erhöhte Preise auch tatsächlich beim Arbeitnehmer ankommen? "Als Verbraucher kann man das nicht erkennen", so Sell. "Es sei denn, die Medien berichten so intensiv wie es bei Schlecker der Fall war". Was viele nicht wissen: nicht nur in gewinnorientierten Unternehmen werden Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor beschäftigt, auch in kirchlichen und wohlfahrtverbandlichen Einrichtungen sind Mitarbeiter häufig von Niedriglöhnen betroffen.

Lohngerechtigkeit wird in Deutschland immer seltener. Das zeigten auch die Einspielfilme während der Sendung. Schlecker wandelt seine Filialen in XL-Filialen um, um sich vor der Tarifbindung zu drücken. Lebensmitteldiscounter setzen oftmals lieber mehrere Minijobber ein, da diese günstiger sind als eine Vollzeitkraft. Leiharbeitnehmer, die bis zu einem Drittel weniger Lohn erhalten als ihre Kollegen, schaffen nicht - wie von der Politik geplant - den Sprung in die Vollzeitbeschäftigung. Und angestellte Lehrer verdienen deutlich weniger als ihre verbeamteten Kollegen und können sich nicht mal einen Urlaub leisten.

Der Arbeitsmarktexperte Stefan Sell hält das Instrument Leiharbeit dabei grundsätzlich für sinnvoll, sofern die Leiharbeitnehmer den gleichen Verdienst wie ihre Kollegen erzielen. Er nennt dabei das Beispiel Frankreich, wo deutlich mehr Leiharbeitnehmer eingestellt werden, diese jedoch zusätzlich zum gleichwertigen Einkommen einen Flexibilitätsbonus von 10 Prozent erhalten. Mit Skepsis beobachtet er aber derzeit eine zwar legale, aber missbräuchliche Inanspruchnahme der Leiharbeit in Deutschland. Denn durch eine Gesetzeslücke gründen immer mehr Unternehmen ihre eigene Zeitarbeitsfirma, schließen niedrigere Tarifverträge ab "und unterlaufen so ihre eigenen Tariflöhne." Der Weg zur Zwei-Klassen-Belegschaft wird auf diese Weise geebnet.

Es gibt weitere Fälle, in denen Menschen von ihrem Einkommen nicht leben und ihre Familie nicht ernähren können, selbst wenn sie mehr als den Mindestlohn verdienen. So wird in der Sendung der Fall von Thomas Lerchner vorgestellt, der mit seiner vierköpfigen Familie auf Lebensmittel von der Tafel angewiesen ist. Er gehört zu den etwa 400.000 Vollzeitbeschäftigten, die ihren Verdienst mit Hartz IV aufstocken. Weitere 500.000 Vollzeitbeschäftigte hätten ebenfalls Anspruch, verzichten aber darauf, da sie für den Zuschuss dasselbe Prozedere über sich ergehen lassen müssen wie der nicht arbeitende Hartz IV-Empfänger, so der Arbeitsrechtler Wolfgang Büser.

"Wir brauchen einen allgemein gesetzlichen Mindestlohn, wie wir ihn in den meisten europäischen Ländern um uns herum haben." Der Ansicht ist auch Arbeitsmarktexperte Sell. Hierbei sei es jedoch wichtig nicht gleich zu hoch einzusteigen, sondern den Lohn jedes Jahr kontinuierlich anwachsen zu lassen.

Dass es auch anders geht, bestätigte Dirk Müller, Geschäftsführer eines Gebäudereinigungsunternehmens. In seiner Branche werden bereits Mindestlöhne gezahlt. "Wir wollen Wettbewerb über Qualität", so Müller. Dass Mindestlöhne Arbeitsplätze vernichten, wie es in vielen Gutachten heißt, kann Müller nicht bestätigen. Im Gegenteil: In seiner Branche wurden Arbeitsplätze sogar aufgebaut.

Um das Thema Hartz IV ging es übrigens auch in der Sendung hart aber fair mit Frank Plasberg. Am Tag nach der Sendung "Die rote Rolle rückwärts - kommt jetzt der Abschied von Hartz IV?" überprüfte Prof. Dr. Stefan Sell als Arbeitsmarktexperte im Faktencheck die Aussagen der Gäste.
Quelle: UD / fo
 
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