Aus MDGs werden die SDGs – Alter Wein in neuen Schläuchen?
15 Jahre lang standen die Millennium Development Goals (MDGs) für das Versprechen der UN nach einer besseren und gerechteren Welt. Manches wurde erreicht, vieles blieb liegen. Jetzt sollen die Sustainable Development Goals (SDGs) genau hier ansetzen und weitermachen. Viele Themen sind dabei geblieben, neue dazugekommen. Sind die SDGs statt der MDGs also nur Wortklauberei oder was steckt inhaltlich dahinter? Wir sprachen darüber mit Professor Stefan Schaltegger, einem der renommiertesten Nachhaltigkeitsexperten hierzulande.
16.03.2016
Sind die Sustainable Development Goals (SDGs) als Nachfolger der Millennium Development Goals (MDGs) substanziell verbessert, oder ist es alter Wein in neuen Schläuchen?
Prof. Stefan Schaltegger: Ich habe einen Eins-zu-eins-Vergleich gemacht und dabei sieht man, dass eine ganze Reihe der Millennium Development Goals auch in den Sustainable Development Goals enthalten sind. Themen wie beispielsweise Armut und Hunger waren Ziel Nr. 1 bei den MDGs und sind jetzt aufgesplittet worden in Ziel Nr. 1 und Ziel Nr. 2 bei den SDGs, wobei bei Ziel Nr. 2 dann nicht nur Hunger steht, sondern auch „Food Security“ und „Improve Nutrition and Promote Sustainable Agriculture“. Das heißt, die Ziele sind spezifischer geworden, und es ist auch eine gewisse Operationalisierung durch genauere Unterziele erfolgt. Es gibt dann auch die umgekehrte Situation bei den MDG-Zielen 3 bis 5, also „Gender Equality”, „Child Mortality” und „Maternal Health“, die jetzt weitgehend zu einem Ziel, nämlich Ziel Nr. 3 bei den SDGs zusammengefasst wurden: „Ensure Healthy Life and Promote Well Being for all and all Ages”. Insgesamt gesagt ist eine Restrukturierung erfolgt, teilweise als Spezifizierung, teilweise als Zusammenfassung. Und es gibt neue Ziele, wie beispielsweise „Ensure Access to affordable, reliable sustainable and modern Energy”. Die gab es so vorher bei den MDGs weder auf der Ziel- noch auf der Target-Ebene.
Ein ganz wesentlicher Unterschied ist nach Ansicht der UN, dass mit den SDGs jetzt auch die Industrie- und OECD-Staaten Teil der Entwicklungsziele sind, also auf eine gewisse Art jeder Staat ein Entwicklungsland ist.
Schaltegger: Das ist richtig, wobei auch schon bei den MDGs klar war, dass das sehr stark auch die Industrieländer betrifft. Wenn wir uns Themen wie HIV- oder Hunger- und Armutsbekämpfung anschauen, so kann das nur Erfolg haben, wenn die Industrieländer sich entsprechend dafür einsetzen.
Jüngst hat die Bertelsmann Stiftung einen Stresstest mit einem Teilbereich der SDGs durchgeführt und viele Länder sind durchgefallen. Da steht also noch viel Arbeit an. Glauben Sie, dass die SDGs helfen werden, mehr Nachhaltigkeit in diesen Ländern anzustoßen?
Schaltegger: Ja und nein. Ziele sind zunächst einmal nur Absichtserklärungen. Das Problem der Ziele der MDGs war ja nicht, dass sie schlecht waren und sie deshalb großteils gar nicht oder nur partiell erreicht wurden oder auch erhebliche Rückschritte erzielt wurden. Das Problem ist vielmehr, dass die notwendigen Maßnahmen nicht umgesetzt wurden. Aber allein dadurch, dass man jetzt Ziele anders formuliert oder auch spezifiziert, ist noch nichts erreicht. Es ist natürlich sinnvoll, dass man solche Ziele formuliert, und damit verbunden ist ja auch die Hoffnung, dass unterschiedliche gesellschaftliche und politische Akteure sich danach richten und entsprechende Maßnahmen in ihren Ländern anstoßen. Was davon in der Politik tatsächlich handlungsrelevant wird, bleibt abzuwarten.
Liegt das vielleicht auch daran, dass die SDGs mit 17 Zielen mit 169 Unterzielen viel zu aufgebläht sind? Manche Kritiker sagen, man habe die SDGs so formuliert, dass jede denkbare Anspruchsgruppe irgendwie mitgenommen wird und das Ergebnis eher einen Verhandlungskompromiss abbildet als eine wirkliche Handreichung. Wie sinnführend ist so ein Instrumentenset, gerade auch um Unternehmen als Akteure anzusprechen und einzubinden?
Schaltegger: Zunächst einmal sind 169 Punkte natürlich sehr viel, das ist klar. Aber nicht jede Organisation ist von allen 169 Zielen beziehungsweise 17 Oberzielen betroffen. Man sollte das als eine Sammlung von global bedeutenden Aspekten ansehen und muss sich dann überlegen, was ist relevant für unser Unternehmen, für unsere Organisation, für unser Land. Für ein Land etwa, das keinen Ozeanzugang hat, spielt natürlich das entsprechende Ziel nur sehr indirekt eine Rolle. Das Gleiche gilt für Unternehmen: Ein Unternehmen, das nicht viel mit Energie zu tun hat, wird auch nur einen kleinen Beitrag für eine nachhaltige Energieversorgung leisten können. Das ist häufig so bei Nachhaltigkeitsthemen.
Nachhaltigkeit ist ein hoch komplexer Bereich mit ganz, ganz vielen Teilaspekten. Bei den SDGs hat man versucht, möglichst viele Teilaspekte einzufangen. Das führt dazu, dass diese Ziele aus sehr unterschiedlichen Perspektiven formuliert wurden und es zu Überschneidungen kommt. „Sustainable Consumption and Production“ hat ja auch etwas mit Energiekonsum zu tun und überschneidet sich mit „Sustainable Energy“. Solche Überschneidung zwischen den Zielen gibt es zu Hauf. Daran wird deutlich, dass die SDGs nicht top down aus einer stringenten Logik konstruiert wurden, sondern aus einem gesellschaftlichen Prozess entwickelt worden sind, um unterschiedlichen Gruppen einen Ankerpunkt zu liefern. Das ist aber kein Problem, weil es nicht darum geht, diese Ziele quantitativ zu messen und Dopplungen zu vermeiden, sondern es geht darum, Fortschritte in allen Bereichen zu erzielen und ein Bewusstsein für die Vielfalt und Komplexität von Nachhaltigkeit zu schaffen.
Für Entscheidungsträger, die sich für Nachhaltigkeit nicht viel Zeit nehmen wollen, sind diese 169 Unterziele natürlich abschreckend. Aber Organisationen und Personen, die der Nachhaltigkeit eine gewisse Relevanz beimessen, werden sich überlegen, was von diesem Set an Zielen für sie relevant ist. Das übernehmen üblicherweise Nachhaltigkeitsbeauftragte, welche die Nachhaltigkeitsthemen und -probleme ihrer Organisation kennen.
Müssen Unternehmen für die SDGs neue Instrumente und Methoden, Indikatoren oder KPIs entwickeln?
Schaltegger: Ich sehe das nicht so. Wenn man in seinem Nachhaltigkeitsbericht eine klare Aussage machen will, wie man im Vergleich zu den SDGs dasteht, dann muss man in jedem Fall Daten erheben. Die den SDGs zugrundeliegenden und für ein Unternehmen relevanten Nachhaltigkeitsthemen sind jedoch nicht neu und sollten deshalb ohnehin schon angegangen, gemessen und kommuniziert werden. Beim Thema Klimaschutz wird beispielsweise CO2 in modernen Unternehmen schon seit einiger Zeit gemessen und intern gesteuert. Um zum SDG-Ziel „Climate Change“ Aussagen zu treffen, braucht man nun im Jahre 2015 keine neuen Messmethoden oder Anreizsysteme.
Lise Kingo, die neue Exekutiv-Direktorin des Global Compact, beschreibt die SDGs als klaren Forderungskatalog der Weltgemeinschaft an die Unternehmen. Macht das die ganze CSR-Diskussion damit wesentlich politischer? Bisher haben wir Erklärungsmodelle wie Elkingtons „Triple Bottom Line“ oder Archie Carrolls „CSR-Pyramide“ hier oft zur Innensicht genutzt, um damit entsprechende Management- sowie Prozess- und Lösungsstrukturen auf Unternehmensebene aufzubauen. Müssen wir diese Modelle stärker extrovertiert denken?
Schaltegger: Corporate Social Responsibility (CSR) ist niemals nur innenorientiert, sondern geht der Frage nach, was kann und soll man intern tun, um die externen Wirkungen des Unternehmens zu managen? Insofern steht Corporate Social Responsibility immer im Bezug auf die Gesellschaft und fragt nach dem Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung. Beispielsweise die Bottom of the Pyramide-Ansätze versuchen, Produkte zu entwickeln, die sich auch die Ärmsten der Armen leisten können. Aber die Herausforderung von CSR ist immer auch organisationsintern: Wie setzen wir etwas um? Wie organisieren wir das? Und kann man das überhaupt machen? Daran wird sich auch durch die SDGs nichts ändern, weil sie dem Unternehmen beim besten Willen nicht sagen, wie es etwas intern umsetzen soll. Was die SDGs dagegen leisten können, ist, einen Referenzpunkt darzustellen für Unternehmen, die einen Beitrag zur Lösung der globalen Probleme leisten wollen.
Hat das nicht ein „Geschmäckle“, wenn wir an Hunger und Krankheiten verdienen?
Schaltegger: Es hat einen Beigeschmack, wenn ein Geschäftsmodell so ausgerichtet ist, dass die Armen für das Produkt mehr bezahlen, nur weil es in kleinere Portionen gepackt wird, damit sie diesen Preis aufbringen können. Es gibt aber auch gute Bottom of the Pyramide-Lösungen, bei denen sie nicht über den Tisch gezogen werden, sondern sie im Gegenteil sogar Vorteile haben. Hier haben sich auch ganz spannende hybride Organisationsformen im Gründungsbereich herausgebildet, die halb NGO, halb Unternehmen sind.
Wenn wir wollen, dass die SDGs bis 2030 den einen oder anderen Erfolg zeitigen, dann werden wir dafür einen neuen Typus von Unternehmern und Führungskräften brauchen, die so etwas viel stärker mitdenken. Was müssen diese Manager besser können als herkömmliche Manager?
Schaltegger: Eine ganze Reihe Dinge! Man spricht hier auf der einen Seite von Sustainability Managern und auf der anderen Seite von Sustainability Entrepreneuren. Beide stellen sich die Frage, wie das Geschäftsmodell fundamental verändert werden muss, sodass sie einen Beitrag zu einer Nachhaltigkeits-Transformation von Märkten und Gesellschaft beitragen. Um ein Beispiel zu nennen, stellen wir uns ein Automobilunternehmen vor. Jedes Auto, das auf den Markt gebracht wird, stiftet individuellen Nutzen – deshalb wird es gekauft. Es trägt grundsätzlich aber auch zu Problemen bei – vor allem ökologischen, aber auch Unfallgefahren etc. Die meisten Geschäftsmodelle im Automobilsektor beinhalten prinzipiell eine unnachhaltige Wirkung, da sie auf den Verkauf möglichst vieler Autos ausgerichtet sind und damit den Ressourcenverbrauch und die Anzahl Staus erhöhen. Nachhaltigkeitsmanager müssen deshalb ein Verständnis dafür entwickeln, wie sie dieses Geschäftsmodell so ändern, dass nicht nur der Verkauf im Vordergrund steht, sondern andere Wege wie zum Beispiel Produkt-Dienstleistungs-Kombinationen entwickelt werden, die das zugrunde liegende Mobilitätsbedürfnis genauso erfüllen. Das kann zum Beispiel Car Sharing sein, weil man dabei zehn Mal weniger Autos braucht, um die gleiche individuelle Mobilität in einem urbanen Raum zu bedienen. Daimler macht das beispielsweise mit „Car to go“ und BMW mit „Drive now“. Es geht also nicht nur darum, bisherige Geschäftsprozesse möglichst effizient zu gestalten und Autos mit weniger Umweltbelastung zu produzieren, sondern es geht um eine grundsätzliche Innovation des Geschäfts und der Geschäftsmodelle. Diese Art von Transformationsdenken macht den neuen Manager-Typus aus. Hierbei helfen die SDGs bewusst zu machen, was die zentralen gesellschaftlichen Probleme sind, die es zu meistern gilt.
Der Beitrag erschien im Original im Jahrbuch Global Compact Deutschland 2015.
Prof. Dr. Stefan Schaltegger ist Ordinarius für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Nachhaltigkeitsmanagement. Er leitet das Centre for Sustainability Management (CSM) und hat 2003 den weltweit ersten MBA Sustainability Management eingeführt. Sein Forschungsschwerpunkt ist Nachhaltigkeitsmanagement, insbesondere Messung und Steuerung unternehmerischer Nachhaltigkeit (Environmental and Sustainability Accounting and Reporting, Nachhaltigkeitscontrolling, Sustainability Balanced Scorecard), Grundlagenkonzepte und Methoden des Nachhaltigkeitsmanagements (Sustainable Entrepreneurship, Biodiversitätsmanagement, Operationalisierung unternehmerischer Nachhaltigkeit) sowie Management von Stakeholder-Beziehungen.