„Deutschland kann selbstbewusst auf eigene Erfolge verweisen“
Corporate Foresight, Innovation, Strategie – diese Schlagworte beschreiben große und wichtige Zukunftsthemen. Aber welche Weichen stellen wir ganz konkret für eine nachhaltigere Zukunft? Und wie machen wir das am besten? Wir sprachen darüber mit der Innovationsforscherin Marion Weissenberger-Eibl, die auch die Bundesregierung in SDG-Fragen berät.
20.08.2018
Frau Prof. Dr. Weissenberger-Eibl, in vielen Länder boomt eine rückwärtsgewandte Politik. Und auch deutsche Politiker fahren am liebsten „auf Sicht“. Haben wir unsere positive Einstellung zur Zukunft verloren?
Prof. Dr. Marion Weissenberger-Eibl: Aktuell lassen sich auf internationaler politischer Ebene in der Tat Tendenzen beobachten, eher zurückzublicken oder das Erreichte infrage zu stellen. Ich denke zum Beispiel an die Errungenschaften der internationalen Klimapolitik und speziell die Pariser Verträge, an die sich etwa die USA nicht mehr binden möchten. Wir sollten uns stattdessen auf die Zukunft fokussieren und darüber nachdenken, wie wir mit künftigen Herausforderungen umgehen. Deutschland wird sich in den nächsten Jahren mit Themen wie Digitalisierung, Nachhaltigkeit oder dem Demografie- und Fachkräfte-Problem auseinandersetzen und Lösungen hierfür finden müssen. Dabei sollten wir nicht vergessen, dass wir auf zukünftige Entwicklungen – Stichwort Foresight – Einfluss nehmen und Trends aktiv mitgestalten können. Damit befasst sich mein Lehrstuhl Innovations- und TechnologieManagement am KIT und das Fraunhofer ISI, wo wir mit Zuversicht „in die Zukunft blicken“.
Zukunftsforschung klingt nach Glaskugel oder Kartenlegen. Unternehmen sprechen deshalb lieber von Corporate Foresight. Was ist das genau?
Weissenberger-Eibl: Bei Corporate Foresight geht es darum, mögliche zukünftige Entwicklungen frühzeitig zu kennen und unternehmerische Strategien dafür zu entwickeln. Von daher ist das Bild von der Glaskugel ziemlich unvollständig.
Corporate Foresight bedeutet nämlich ausdrücklich nicht, eine Illusion zu kreieren, wie die Zukunft aussehen könnte, sondern auf wissenschaftlicher Basis unterschiedliche Szenarien durchzudenken, die für Unternehmen strategisch relevant sein könnten. Dabei geht es um Fragen, wie wir in Zukunft leben, uns fortbewegen oder ernähren werden. Welche Rohstoffe und Produkte werden dafür gebraucht? Welche Entwicklungen sind wahrscheinlich und wie könnten Unternehmen darauf reagieren? Unternehmen, die sich aktiv und frühzeitig mit diesen und anderen Zukunftsfragen auseinandersetzen, erhöhen ihre Gestaltungsmöglichkeiten und verringern das Risiko unangenehmer Überraschungen. Das betrifft übrigens technologische Entwicklungen genauso wie Entwicklungen in der Gesellschaft, Wirtschaft oder Politik.
Foresight-Ansätze bekommen mit Blick auf die SDGs besondere Bedeutung. Wenn wir 2030 in einem nachhaltigeren Deutschland leben wollen, müssen wir was jetzt tun?
Weissenberger-Eibl: Ich denke, wir müssen die Vision, wie ein nachhaltigeres Deutschland im Jahre 2030 aussehen könnte, in alle Ebenen der Gesellschaft kommunizieren. Dazu muss in einem ersten Schritt der Begriff „Nachhaltigkeit“ erklärt werden. Viele denken dabei in erster Linie an Klima- und Umweltschutz, doch Nachhaltigkeit bedeutet weit mehr: Themen wie Zugang zu Bildung, schonender Ressourcenumgang, gesunde und lokale Ernährung oder effiziente Infrastrukturen gehören ebenfalls dazu. In einem zweiten Schritt gilt es zu verdeutlichen, dass jede und jeder mit seinem Handeln als Individuum zu einem nachhaltigen Leben in Deutschland beitragen kann: Indem zum Beispiel mehr regionale Produkte und Lebensmittel konsumiert, sparsame Haushaltsgeräte angeschafft und diese länger behalten oder öfter öffentliche Verkehrsmittel genutzt werden. Aber natürlich stellt sich diese nachhaltige Lebensweise nicht von allein ein, hier muss es auch Anreize geben: Sei es durch die Erforschung nachhaltiger Innovationen, Investitionen in nachhaltige Mobilitäts- und Infrastrukturkonzepte oder die Förderung von Bildung, die eine wichtige Voraussetzung
für das Bewusstsein gegenüber dem Thema Nachhaltigkeit ist. Die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung greift bereits viele dieser Aspekte auf. Im Lenkungskreis der Wissenschaftsplattform Nachhaltigkeit 2030 diskutieren wir dies ausführlich und entwickeln hierfür geeignete Perspektiven und Initiativen.
Die Bundesregierung spricht in diesem Zusammenhang nicht von Zukunftsthemen, sondern von Zukunftsfeldern. Ist das eine semantische Spitzfindigkeit oder meint das etwas anderes?
Weissenberger-Eibl: Beide Begriffe beschreiben den gleichen Sachverhalt, also die 17 nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, die auch die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung prägen. Ich finde „Zukunftsfelder“ zu deren Beschreibung von der Begrifflichkeit her sinnvoller und treffender. Denn es kommt stärker zum Ausdruck, dass es um weitläufige und schwer abgrenzbare Themenkomplexe geht. So sind die SDGs „Bezahlbare und saubere Energie“, „Maßnahmen zum Klimaschutz“ und „Leben unter Wasser“ eng verwoben, was auch für die SDGs „Hochwertige Bildung“, „Weniger Ungleichheiten“ und „Geschlechter-Gleichheit“ gilt. Zudem bestehen die „Zukunftsfelder“ wieder aus Unterthemen, weshalb ich diese Bezeichnung bevorzuge – auch um Irritationen zu vermeiden.
Eine Krux bleibt: Die Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen, übersteigen oftmals unsere gewohnten Planungshorizonte. Der Nobelpreisträger und Verhaltensökonom Richard H. Thaler beschreibt das sehr gut. Wie kriegen wir hier mehr Schwung in die Umsetzung der SDGs?
Weissenberger-Eibl: Um die nachhaltigen Entwicklungsziele und die SDGs schneller umzusetzen, ist es hilfreich, wenn alle beteiligten gesellschaftlichen Akteure eng zusammenarbeiten. Die deutsche Politik hat hierzu extra die SDG-Wissensplattform „Nachhaltigkeit 2030“ gegründet, in deren Lenkungskreis ich berufen wurde. Dabei arbeite ich gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft an der Umsetzung der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie. Der Lenkungskreis legt die Schwerpunkte der Plattformarbeit fest und erarbeitet regelmäßig auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse Handlungsempfehlungen zur schnellen Umsetzung der SDG-Ziele. So wird sichergestellt, dass diese Ziele nicht aus den Augen verloren werden – selbst dann nicht, wenn sich die Rahmenbedingungen dafür ändern sollten. Für die Umsetzung und Erreichung der SDG-Ziele ist der Austausch zwischen Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft immens wichtig und unverzichtbar.
Bei Corporate Foresight geht es darum, mögliche zukünftige Entwicklungen frühzeitig zu kennen und unternehmerische Strategien dafür zu entwickeln.
Können Innovationen hierbei so etwas sein wie das Schwert, das den gordischen Knoten herkömmlichen Wirtschaftens durchtrennt?
Weissenberger-Eibl: Auf dem Weg zu einer nachhaltigeren Wirtschaftsordnung spielen Innovationen eine enorm wichtige Rolle. Denn sie stoßen tiefgreifende Transformationsprozesse an, die wir brauchen, um beispielsweise den CO2-Ausstoß zu senken und unsere Ressourcen effizienter zu nutzen. Dazu bedarf es zum einen kluger Köpfe, die den Mut haben, ihre Ideen vom Erstentwurf bis zur Marktreife durchzusetzen.
Zum anderen bedarf es aber auch einer starken und gesunden Innovationskultur, die die Entwicklung und Etablierung nachhaltiger Start-ups fördert und auch einmal zulässt, dass man mit einer Idee scheitert. Wir erforschen etwa, welche Innovationskraft von der in jüngster Zeit aufgekommenen „Kultur des Selbermachens“ ausgeht – Stichwort „offene Werkstätten“ und Repair-Cafés – und welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit nachhaltige Innovationen markt- und systemrelevant werden. Deutschland hat, wie der von uns mitentwickelte „Innovationsindikator“ zeigt, noch Nachholbedarf – insbesondere bei der Digitalisierung. Innovationen sind ein hohes Gut auf dem Weg zu einer dezentralen und vernetzten Wirtschaft.
Bei Innovationen denkt man gleich an große Taten wie die Erfindung des Rades oder des Autos. Die meisten Innovationen sind unspektakulärer. Sie schlagen deshalb vor, nicht vom Ergebnis, sondern von Rahmenbedingungen, die zu einem Ergebnis führen, aus zu denken. Was bedeutet so ein Blickwinkel bei unserer SDG-Diskussion?
Weissenberger-Eibl: Bei Innovationen denken viele Menschen in erster Linie an bahnbrechende Neuerungen, jedoch weniger an kontinuierliche Weiterentwicklung. In der Innovationsforschung sprechen wir im ersten Fall von radikalen, im zweiten von inkrementellen Innovationen. Letztere spielen eine weitaus bedeutsamere Rolle, als dies gemeinhin angenommen wird. Für die Diskussion um nachhaltige Entwicklungsziele sind inkrementelle Innovationen wichtig, weil sich Verbesserungen erst im Lauf der Zeit und durch stetiges Anpassen ergeben. Nimmt man etwa das SDG-Entwicklungsziel „Frieden und Gerechtigkeit“ als Beispiel her, lässt sich dieses nicht durch plötzliches Agitieren erreichen. Vielmehr braucht es dazu stabile politische Verhältnisse, Wirtschaftswachstum und Bildungsanstrengungen, die sich nicht von heute auf morgen realisieren lassen. Dies hat die UN erkannt und diese „Unterziele“ teilweise selbst als „Sustainable Development Goals“ definiert.
Es gibt bereits herausragende und gute SDG-Beispiele – sogenannte Leuchttürme. Taugen solche Leuchtturmprojekte, um die anderen mitzureißen oder enden wir am Ende bei vielen kleinen Insellösungen?
Weissenberger-Eibl: Die erwähnten Leuchtturmprojekte sind aus mehreren Gründen hilfreich: Zum einen arbeiten sie konkrete Lösungsvorschläge für globale Problemstellungen aus, die über die SDGs angesprochen werden. Zum anderen unterstreichen sie, dass es bei der Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungsziele vorangeht – die Projekte sollen ja zum Nachahmen anspornen. Zwar sind sie nicht immer komplett auf andere Fälle und Länder übertragbar. Aber bestimmte Ansätze und Schemata eignen sich zur vielfältigen Verbreitung. Ich denke etwa an die Leuchtturmprojekte zum Ausbau der ländlichen Infrastruktur in Laos, das Bündnis für nachhaltige Textilien oder das von Deutschland mitfinanzierte Konzept der Bauernfeldschulen, in denen landwirtschaftliche Fertigkeiten erlernt, angewandt und weitergegeben werden.
Wir Europäer tun uns oft schwer mit strukturellem Wandel, denn das bedeutet oft, mühsam ausgehandelte Kompromisse wieder aufzuschnüren. Viele schauen deshalb neidisch in die USA und das Silicon Valley mit seiner Innovationsmentalität. Sie tun das nicht. Warum?
Weissenberger-Eibl: Der Erfolg des Silicon Valley ist unbestritten, er hat aber auch ganz spezifische Ursachen. Daher ist es ein Irrglaube, dass dessen Erfolgsrezept in Deutschland funktionieren würde. Wir können aber natürlich Dinge vom Silicon Valley lernen. Dazu gehört die Erkenntnis, dass die Verzahnung von exzellenter Forschung und Entwicklung, finanzieller Unterstützung und unternehmerischen Wissens eine erfolgreiche Innovations- und Arbeitskultur schafft. Zudem gibt es in Deutschland keine vergleichbare Fehlerkultur oder Einstellung gegenüber unternehmerischen Risiken – in den USA werden Jungunternehmer dagegen mit potenziellen Geldgebern zusammengebracht, die Start-ups mit Summen im zweistelligen Milliardenbereich ausstatten. All dies prägt das Silicon Valley seit den 1950er Jahren und hat im Lauf der Zeit eine ganz eigene Innovationsmentalität hervorgebracht.
Ich plädiere aber dafür, dass Deutschland selbstbewusst auf sein eigenes Erfolgsrezept verweisen kann. Im Unterschied zum Silicon Valley stützt sich das deutsche Innovationssystem nicht nur auf einige wenige Eliteuniversitäten wie Harvard, das MIT oder Standford. Stattdessen gibt es hier eine Vielzahl exzellenter Universitäten, Hochschulen und Forschungseinrichtungen wie Fraunhofer, Max-Planck, Leibniz und Helmholtz. Die Fraunhofer-Gesellschaft verknüpft wie keine andere Einrichtung
wissenschaftliche Forschung mit ihrer Anwendung und ist die größte Organisation für anwendungsorientierte Forschung in Europa. Das erfolgreiche Fraunhofer-Modell regte sogar Ex-US-Präsident Obama zur Aussage an, dass in den USA eine Einrichtung wie Fraunhofer fehle, die auf nationaler wie internationaler Ebene Forschung und Anwendung eng miteinander verzahnt.
Bei der Messung von Fortschritt sind qualitative Indikatoren gefragt. Hier sehen einige in Big Data eine Chance. Andere warnen, dass mehr Informationen nicht automatisch mehr Erkenntnis bringen. Welchen Rat haben Sie?
Weissenberger-Eibl: Ich bin der Meinung, dass Big Data in bestimmten Bereichen eine große Chance darstellt – etwa wenn es um die Entwicklung von Produkten oder Dienstleistungen geht, bei denen kumulierte Datenmengen helfen, das künftige Konsumverhalten und neue Kundenbedürfnisse besser abzuschätzen. Bei der Entwicklung der SDG-Indikatoren würde ich aber anraten, sowohl auf harte als auch auf weiche Indikatoren zu setzen. Konkret bedeutet dies, dass nachhaltige Innovationen neben messbaren Faktoren wie etwa den zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen, Bildungsabschlüssen oder zum Artenreichtum genauso von weichen, nicht unmittelbar messbaren Faktoren wie den vorhandenen Werten oder Moralvorstellungen abhängen. Diese sind manchmal essenziell, um Veränderungen anzustoßen und sie auch abzubilden. Ein gutes Beispiel ist das SDG-Ziel Nummer fünf zur „Geschlechter-Gleichheit“, bei dessen Beurteilung es zu kurz greift, wenn man sich nur auf vorhandenes Datenmaterial stützt. Auch beim schon erwähnten „Innovationsindikator“ kombinieren wir weiche und harte Indikatoren, um die Innovationsfähigkeit von Ländern, Branchen oder diversen Gesellschaftsbereichen zu messen.
Bekannt werden Ideen und Innovationen meist erst, wenn sie kommerziellen Erfolg haben. Geld ist hier der Gradmesser des Erfolges. Was machen wir aber mit Entwicklungsthemen und Lebenswelten, von denen die meisten Menschen nicht wünschen, dass diese monetarisiert oder kommerzialisiert werden?
Weissenberger-Eibl: Wir beobachten in der Innovationsforschung schon länger, dass bei Innovationen nicht allein der kommerzielle Erfolg zählt. Dies gilt insbesondere auch für nachhaltige Innovationen. Bei etlichen Produkten und Dienstleistungen gibt es – sicherlich auch bedingt durch den gesellschaftlichen Wandel zu postmaterialistischen Werten – eine teilweise Umorientierung auf Aspekte wie Einfachheit, Nachhaltigkeit oder Robustheit. Innovationsforscherinnen und -forscher sprechen hier von „frugalen Innovationen“, die auf Ressourcenschonung, Simplizität in ihrer Konstruktionsweise, auf das Notwendigste beschränkte Funktionen und einen günstigen Preis bedacht sind. Konzipiert waren sie anfangs eher für Entwicklungs- und Schwellenländer, doch mittlerweile finden sich in Deutschland immer mehr Nachfrager für derlei Innovationen. Den Menschen wird einfach immer stärker bewusst, dass ihr eigenes Konsumverhalten das Leben von Menschen in anderen Ländern beeinflusst. Und andererseits wir auch von anderen Ländern und deren Herangehensweisen lernen können. Hier ein gelungenes Zusammenspiel zu orchestrieren, wird zukünftig noch essenzieller werden.
Vielen Dank für das Gespräch!