Wahlkampf 2017 und die 2030-Ziele: War da etwas?
Eigentlich hätte man erwarten dürfen, dass die universelle 2030-Agenda mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs oder auch „2030-Ziele“) zu einem zentralen Bezugspunkt des Bundestagswahlkampfes 2017 wird. Eigentlich. Adolf Kloke-Lesch vom SDSN Germany zieht eine ernüchternde Bilanz.
09.11.2017
Angela Merkel (CDU) hatte noch im Mai der 2030-Agenda „historische Bedeutung“ zugesprochen und sie als „umfassende(n) Auftrag zur Transformation für alle Staaten und letztlich für jeden Einzelnen von uns“ bezeichnet. Sigmar Gabriel (SPD) erkannte in der 2030-Agenda den „zentrale(n) Bezugsrahmen für eine gerechtere und friedlichere Weltordnung“, Martin Schulz (SPD) sprach sich für deren ambitionierte Umsetzung aus. Barbara Hendricks (SPD) sah in ihr einen „globalen Gesellschaftsvertrag“, den „ehrgeizigste(n) Plan, der jemals gegen Armut und zugunsten des Planeten aufgestellt worden sei“. Gerd Müller (CSU) sprach vom „Weltzukunftsvertrag“ und einer „Aufgabe aller Politikfelder“.
Die Oppositionsfraktionen im Bundestag standen hinter solchen Ansprüchen nicht zurück, mahnten aber, wenig überraschend, konsequentere Umsetzung an. Die Linke forderte in einem Antrag, die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie an die „Notwendigkeit einer globalen sozialökologischen Transformation“ anzupassen. Die Grünen hatten in 17 Anträgen zu jedem einzelnen SDG ihre Vorstellungen zur deutschen Umsetzung vorgelegt. Also eigentlich alles gut gerichtet für einen Nachhaltigkeitswahlkampf 2017, in dem die 2030-Agenda „für jeden Einzelnen von uns“ konkret wird und „alle Politikfelder“ durchzieht – ein Wahlkampf, in dem über die besten Wege zu den 2030-Zielen gesprochen und gestritten wird?
Schwachstelle Parteien
Mitnichten, denn da sind ja noch die Parteien, die Schwachstelle der Nachhaltigkeitsarchitektur. Sie sollen nach Artikel 21 des Grundgesetzes an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken, erscheinen aber auffällig unberührt von der 2030-Agenda und bleiben spürbar hinter manchen Diskursen in Wirtschaft und Gesellschaft zurück. Die parteiengesetzlich vorgegebene Organisation nach Gebietsverbänden fördert die Orientierung an regionalen und persönlichen Interessen. Die einflussreichen Fachgruppen sind entlang klassischer Politikfelder und Ressorts strukturiert und oft das Einfallstor für sektorale und Branchenanliegen. In keiner Partei gibt es eine offizielle Fachgruppe, die für die 2030-Agenda politikfeldübergreifend verantwortlich, geschweige denn entsprechen wirksam wäre. Die Spitzenpolitiker, die sich auf Nachhaltigkeitskonferenzen, im Bundestag oder auf der internationalen Bühne zur Universalität der 2030-Agenda bekennen, tun sich äußerst schwer, dies kraftvoll auch auf Parteitagen und Marktplätzen zu tun. So war es denn auch kein Wunder, dass die ersten Wahlprogrammentwürfe die 2030-Agenda allenfalls als Referenzrahmen für Entwicklungspolitik und andere Außenbeziehungen erwähnten, nicht aber als übergreifendes Narrativ für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik im eigenen Land begriffen. Angesichts der Pfadabhängigkeiten in den Parteien war das Kind damit fast schon in den Brunnen gefallen.
Ein bisschen ging dann aber doch noch. Ob nun Druck aus der Zivilgesellschaft, Einflüsterungen aus den Ministerien oder innerparteiliches Engagement ausschlaggebend waren, immerhin konnte der Stellenwert der 2030-Agenda in den Programmen insgesamt gesehen etwas zulegen. Bündnis90/Die Grünen haben als einzige die 2030-Agenda programmatisch bereits in der Einleitung übergreifend für innere und äußere Politik verankert, bevor sie diese im internationalen Kapitel konkreter ansprechen. CDU/CSU platzieren die 2030-Agenda im Umwelt- und Klimakapitel („Nachhaltigkeit als Auftrag“) und erwähnen als einzige die Nationale Nachhaltigkeitsstrategie, beides allerdings ohne weitere Festlegungen. Die SPD greift die 2030-Agenda im internationalen Kapitel auf, fordert dort aber auch, dass „Deutschland alle Anstrengungen unternehmen (muss), um die Nachhaltigkeitsziele national bis 2030 zu erreichen“.
Die Linke spricht die 2030-Agenda sowohl im internationalen als auch im wirtschaftspolitischen Kapitel an, fokussiert aber primär auf die „Verantwortung des Nordens“. Die FDP erwähnt die 2030-Agenda im internationalen Kapitel als Grundlage ihres Handelns in der Entwicklungspolitik und fordert darauf bezogen einen „kohärenten Ansatz (…) insbesondere zwischen Wirtschafts-, Außen- und Entwicklungspolitik sowie in Abstimmung mit der Europäischen Entwicklungszusammenarbeit“. Bei der AfD findet sich keine Erwähnung der Agenda 2030. Damit liegen – unabhängig von der konkreten Platzierung in den Programmen – bei allen Parteien außer der AfD grundsätzliche Aussagen zur 2030-Agenda als Richtschnur für innere und äußere Politiken vor. Auch wenn diese Aussagen eher allgemein oder unverbindlich bleiben, hierauf kann und sollte aufgebaut werden.
Wie wenig tiefgehend allerdings Verständnis und Berücksichtigung der 2030-Agenda sind, wird darin deutlich, dass insgesamt nur zweimal ein einzelnes 2030-Ziel explizit angesprochen wird: Bei der SPD bei der Gleichstellung von Frauen und Mädchen (Ziel 5) in der Entwicklungszusammenarbeit und bei Bündnis90/Die Grünen mit Blick auf die Bildungskette von der Kita bis zur Erwachsenenbildung (Ziel 4) in der deutschen Bildungspolitik. Womit natürlich nicht gesagt werden soll, die umfangreichen programmatischen Aussagen der Parteien hätten inhaltlich nichts mit den 2030-Zielen zu tun. Im Gegenteil, wie insbesondere im Bereich Klima deutlich wird. Hier bekennen sich alle Parteien außer der AfD zum Pariser Klimaabkommen, der Zwillingsschwester der Agenda 2030 mit ihrem Klima-Ziel 13. Dennoch: Dieselben Parteien, die als Partner der Großen Koalition die Neuauflage der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie entlang der 2030-Ziele strukturiert oder als Oppositionspartei zu jedem einzelnen Ziel einen Antrag in den Bundestag eingebracht haben, fanden für ihre Wahlprogramme keine vergleichbaren Wege.
Wie sollen die Ziele der 2030-Agenda und der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie erreicht werden, wenn sie nicht transparent auch zum Gegenstand von Wahlprogrammen und Debatten werden? Dies sollte vor allem für die Ziele gelten, bei denen die Nachhaltigkeitsstrategie selber oder unabhängige Indikatoren erhebliche Defizite festgestellt haben. Mit einer stärkeren 2030-Orientierung wären die Parteien im Übrigen bei genau den Themen, die nach einer Emnid-Umfrage mehr als die Hälfte der Deutschen als wichtig für ihre Stimmabgabe bezeichnen: Altersarmut (Ziel 1), Familien mit Kindern (insbes. Ziele 1 und 4), Kranken- und Pflegeversorgung (Ziel 3), gleiche Bildungschancen (Ziel 4), Arbeitslosigkeit (Ziel 8), gerechtere Wohlstandsverteilung (Ziel 10), bezahlbarer Wohnraum (Ziel 11), Umwelt- und Klimaschutz (insbes. Ziele 12, 13, 14 und 15), Kriminalität und Terrorismus (Ziel 16).
Auch Zivilgesellschaft und Verbände nicht konsequent
Aber nicht nur innerparteiliche Strukturen und zögerliches Führungsverhalten der Parteispitzen erschweren eine Verankerung der 2030-Agenda in den Parteien. Die Parteien reagieren natürlich auch auf ihr Umfeld, die Interessenverbände, die Stimmungslagen der sogenannten Öffentlichkeit und die Positionierungen der konkurrierenden Parteien. Und da müssen sich auch die Anwälte der 2030-Agenda selber fragen, ob sie in ihrer „Übersetzungsarbeit“ immer die richtige Sprache, die richtigen Adressaten und Wege wählen. Vor allem müssen sie erklären, worin der Mehrwert liegt, konkrete Anliegen in den Kontext der 2030-Agenda zu stellen. Zu oft bewegen sie sich in den Echoräumen ihrer eigenen community, zu der auch ihre Ansprechpartner in Ministerien, Verbänden und Wissenschaft gehören.
Wenn sich in erster Linie Umwelt- und Entwicklungsverbände für die 2030-Agenda einsetzen, wird sie auch so wahrgenommen. „The messenger is the message“, heißt es im Englischen, ein großes Dilemma für die aktivsten Anwälte der 2030- Agenda. Es ist deshalb richtig und wichtig, dass sich Umwelt- und Entwicklungsverbände inzwischen zusammen mit Sozial- und Verbraucherverbänden, mit Gewerkschaften sowie Menschenrechts- und Friedensorganisationen für die Umsetzung der 2030-Agenda in Deutschland einsetzen und gemeinsam an die Politik herantreten. Schaut man aber bei den beteiligten Verbänden auf die jeweiligen eigenen Positionspapiere zur Wahl, finden sich nur bei VENRO (Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe) und dem Deutschen Naturschutzring (DNR) Aussagen zur 2030-Agenda.
Weder der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) noch der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV) stellen ihre Positionen in einen Bezug zur 2030-Agenda. Gleiches gilt zum Beispiel auch für den Bundesjugendring oder die Diakonie. Nicht anders sieht es bei der Wirtschaft aus: Im Rahmen von econsense, dem Forum Nachhaltige Entwicklung der Deutschen Wirtschaft, arbeiten über dreißig führende global agierende Unternehmen und Verbände für nachhaltige Entwicklung in der Wirtschaft und stellen ihre Arbeit explizit und deutlich in den Kontext der 2030-Agenda. Gleichzeitig erwähnt der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), auf dessen Initiative econsense gegründet worden war, in seinen an den neuen Bundestag gerichteten Handlungsempfehlungen die 2030-Agenda mit keinem Wort. Insgesamt also wenig überraschend, dass die Politiker nicht aufgehorcht haben.
Worauf es jetzt ankommt
In der neuen Legislaturperiode bis 2021 stehen wichtige Weichenstellungen für nachhaltige Entwicklung und Klimaschutz an. Für 2018 ist eine erste Anpassung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, 2020 der nächste Fortschrittsbericht vorgesehen. 2019 überprüft ein VN-Gipfeltreffen die weltweite Umsetzung der 2030-Agenda. Bis 2020 ist der Klimaschutzplan der Bundesregierung mit neuen Beiträgen zur Umsetzung des Pariser Klimaabkommens fortzuschreiben. Die Europawahl 2019 bietet eine Chance, die europäische Umsetzung von 2030-Agenda und Klimaabkommen stärker als bisher vorzutreiben, auch unter der deutschen Ratspräsidentschaft im 2. Halbjahr 2020. Diese Aufgaben der nächsten vier Jahre können nur dann erfolgreich bewältigt werden, wenn am „Gemeinschaftswerk Nachhaltige Entwicklung“ alle Akteure aus Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft, aus Wissenschaft, Kunst und Kultur aktiv mitwirken.
Die neue Bundesregierung sollte sich zunächst über den Koalitionsvertrag und dann in der Regierungserklärung verpflichten, die 2030-Agenda und das Erreichen ihrer 17 Ziele in den Mittelpunkt aller ihrer inneren und äußeren Politiken zu stellen und die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie entsprechend anspruchsvoll weiterzuentwickeln. Zu diesem Zweck könnte sie zum Beispiel alle von berufenen Sachverständigenräte und Beiräte auffordern, sich mit ihren Empfehlungen an der 2030-Agenda auszurichten.
Im Deutschen Bundestag sollte der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung dauerhaft in der Geschäftsordnung des Bundestages verankert werden. Sinnvoll wäre auch, wenn die Fraktionen jeweils eine/n ihrer Stellvertretenden Vorsitzenden als Beauftragte für die 2030-Agenda und die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie benennen. Auch sollte die Nachhaltigkeitsstrategie selber regelmäßiger Gegenstand von Beschlussfassungen des Deutschen Bundestages werden.
Die Parteien müssen ihr Verhältnis zur 2030-Agenda umfassend überprüfen und herausarbeiten, mit welchen Mitteln und Wegen sie im Rahmen ihrer jeweiligen gesellschaftspolitischen Konzepte die 2030-Ziele erreichen wollen. So könnten zum Beispiel die Wahlprogramme zur Europawahl 2019 genutzt werden, die Umsetzung der 2030-Agenda als ein Bürgerprojekt der Erneuerung der Europäischen Union zu entwickeln. In den Organisationstrukturen der Parteien sollte ein/e hochrangige/r Verantwortliche/r mit der Aufgabe der querschnittsmäßigen Verankerung der 2030-Agenda in der gesamten Parteiarbeit zu betraut werden.
Zivilgesellschaftliche Organisationen und Wirtschaftsverbände dürfen sich mit der 2030-Agenda nicht nur unter ihren jeweiligen fachlichen Aspekten befassen, sondern müssen die Agenda auch als übergreifendes Narrativ ihrer gesamten Arbeit verstehen und durch ihre Spitzenvertreter/innen öffentlichkeitswirksam darstellen. Die jeweiligen Einzelanliegen gewinnen, wenn sie in den Kontext der breiteren 2030-Agenda gestellt werden. Und sie hängen davon ab, dass die 2030-Ziele insgesamt erfolgreich sind. Warum können es Wirtschaftsverbände wie der BDI nicht den vielen DAX-Unternehmen gleichtun, die die 2030-Ziele prominent auf ihren Internetseiten platzieren. Allianzen aus zivilgesellschaftlichen Organisationen und Wirtschaftsverbänden könnten helfen, selbstgefällige Milieus zu verlassen und in transformative Realpolitik einzusteigen. Dabei sollten die Parteien auch zwischen den Wahlkämpfen systematisch angesprochen werden.
Die Nachhaltigkeitswissenschaft darf Parteien und Verbände nicht länger als Gegenstand ihrer Forschung vernachlässigen, sondern muss deren Rolle in der Nachhaltigkeitspolitik zum Gegenstand politikwissenschaftlicher Analysen und Empfehlungen machen. Dabei kann es dann nicht nur um richtige oder falsche Politiken gehen. Wenn man verstehen will, warum das als richtig Erkannte noch lange nicht zu Politik wird, müssen das politische System und seine Prozesse sowie die politische Klasse selber in den Mittelpunkt von Forschung und Politikberatung rücken.
2030 als Zauberformel der Politik?
Im Wahlkampf haben sowohl der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz als auch der FDP-Vorsitzende Christian Lindner gelegentlich mit dem Begriff Agenda-2030 als magischer Formel für ihre Wahlprogramme gespielt. Man kann Zweifel haben, dass Sie dabei die universelle 2030-Agenda für nachhaltige Entwicklung gleich mitgedacht hatten. Aber genau das ist nun nötig. Vielleicht kann nach dem wenig anspruchsvollen 2017er Wahlkampf der Begriff 2030 doch noch zur Zauberformel deutscher Politik werden – für eine umfassende Transformation, in der die nachhaltige Zukunft Deutschlands, Europas und des Planeten Erde zusammengedacht werden.
Nachdruck mit freundlicher Unterstützung des Forum Wirtschaftsethik, herausgegeben vom Deutschen Netzwerk Wirtschaftsethik - EBEN Deutschland e.V.