Die globale Welt justiert die herkömmlichen Rollenverteilungen neu
Die Sustainable Development Goals (SDGs) stehen für eine bessere Welt ein. Doch wie realistisch ist das in einer globalisierten Welt, deren Märkte eher Ellbogen als Fairness kennen? Was können Nationalstaaten hier überhaupt noch erreichen angesichts von Schuldenbergen und wachsenden Egoismen? Wir sprachen darüber mit Prof. Dr. Josef Wieland, der als versierter Wirtschaftsethiker sowohl Politiker als auch Studierende in diesen Fragen schult.
30.03.2016
Trauen Sie den Sustainable Development Goals zu, ein echter Game Changer zu sein, um Unternehmen einen Impuls in Richtung zu mehr Nachhaltigkeit zu geben?
Prof. Dr. Josef Wieland: Der Unterschied zwischen den bisherigen Millennium Development Goals (MDGs) zu den neuen SDGs ist, dass es nicht mehr allein um Ziele geht, sondern um Lösungen. Das ist sehr wichtig. Unternehmen kommen hier als Akteure hinzu, weil vermutet wird, dass sie ein bestimmtes Lösungspotenzial haben. Aus meiner Sicht besteht die Herausforderung nicht so sehr in einem Mangel an gutem Willen, sondern der Fähigkeit, die Welt als unsere gemeinsame Welt zu verstehen, also global zu denken, globale Analysen vorzunehmen und dann auch entsprechend global zu handeln. Viele Unternehmen sind von ihrem Geschäftsmodell her bereits global orientiert, und das könnte eine Qualifikation sein, einen wesentlichen Beitrag zur Lösung der mit den SDGs aufgeworfenen Herausforderungen nachhaltiger Entwicklung zu leisten.
Der Global Compact spricht an dieser Stelle von „Business is a force for Good”.Gemeinsam Ziele, Werte anstreben klingt für mich ein bisschen nach Sozialethik. Erfährt diese Art von Wohlfahrtsstaat in den USA oder auch bei der UN gerade eine Renaissance?
Prof. Wieland: Der Wohlfahrtsstaat oder auch der Sozialstaat sind heute faktisch Nationalstaaten, deren Aufgabe die Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit ist. In der globalen Welt wird es aber nicht allein um Verteilungsgerechtigkeit gehen, sondern in erster Linie um Chancengerechtigkeit und Fairness der Entwicklung. Die Finanzkrise hat die Unternehmen sehr deutlich daran erinnert, dass sie Bestandteil der Gesellschaft sind und dass sie zum Gelingen dieser Gesellschaft, zur Wohlfahrt aller, beisteuern müssen. Die Zeiten, wo man lakonisch sagen konnte „The Business of Business is Business“, sind vorbei. Das impliziert nämlich, dass das Ziel des Wirtschaftens erschöpfend daran definiert ist, Kapitalrenditen zu erwirtschaften. Das war noch nie richtig und ist heute weder eine konsistente Unternehmensstrategie noch politisch akzeptiert. An die Stelle des Shareholder Value ist der Shared Value getreten, was wir aber nicht mit Wohlfahrt- und Sozialstaatsdenken verwechseln dürfen.
Noch ist dieser Gedanken von Chancengerechtigkeit und Fairness nicht so verbreitet. Kommt das langsam in den Köpfen der Manager an?
Prof. Wieland: Niemand kann heute wirtschaftlich erfolgreich sein, ohne zu berücksichtigen, dass jedes Unternehmen auch eine moralische Seite hat. Das ist genau der Mentalitätswandel, der sich sowohl in der Gesellschaft als auch in der Wirtschaft gegenwärtig vollzieht. Bisher sind Manager gewohnt, in erster Linie auf die Börse oder auf Absatzzahlen als Erfolgsindikatoren zu schauen. Heute gilt es, moralische und andere normative Erwartungen in der strategischen und operativen Führung von Unternehmen zu berücksichtigen.
Helfen dabei die 169 Ziele der SDGs? Kann das eine Grundlage sein, um da andere Formen von Instrumenten und Indikatoren zu entwickeln?
Prof. Wieland: Ja. Die SDGs implizieren, dass ihre Realisierung nicht die Aufgabe spezieller Entwicklungsländer ist, sondern dass wir uns alle entwickeln müssen. Menschenrechts- und Sozialstandards sind keine Spezialitäten der „Dritten Welt“, sondern auch etwa in Deutschland auf der Agenda. Natürlich gibt es Unterschiede, aber wir müssen hier vom hohen Ross runter und unseren Teil zur Entwicklung beitragen. Armutsbekämpfung und Urbanität sind sicherlich in vielerlei Hinsicht regional geprägt und daher auch die Programme und das Engagement. Aber gleichzeitig sind sie auch gemeinsame Probleme. Das setzt aber voraus, dass wir, wie eingangs besprochen, dieses Gemeinsame der nachhaltigen Entwicklung tatsächlich verstehen. Darin sind wir noch nicht gut geübt. Wir sind darin verhaftet, in Kategorien wie Familie, Regionen, Länder und wenn es hoch kommt Nationalstaaten zu denken. Aber wir sind derzeit nur ungenügend in der Lage, europäisch geschweige denn global zu denken. Das wird ja gerade politisch sehr deutlich ausgetestet!
Staaten sind oft gar nicht mehr finanziell oder strukturell in der Lage, diesen Aufgaben nachzukommen. Da könnten Unternehmen in diese Bresche einspringen. Das klingt erst mal gut, aber macht man damit nicht den Staat am Ende des Tages funktions- und damit nutzlos und fördert damit sogar Politikverdrossenheit?
Prof. Wieland: In einer globalen Welt werden die herkömmlichen Rollenverteilungen neu justiert. Aber weder der Nationalstaat noch die europäische Ebene werden deshalb unwirksam oder gar überflüssig, sondern wir sehen neue Akteure in neuen Rollen. Was allerdings nicht mehr funktioniert, ist eine einfache Welt, in der der Staat Regeln und deren Erzwingungsmechanismen setzt und alle folgen. Regierungen und Verwaltungen kommen mehr und mehr in die Situation, den Dialog mit anderen Stakeholdern aus Zivilgesellschaft und Wirtschaft zu suchen und zu organisieren. Multistakeholder-Dialoge sind beispielsweise solche neuen Governance-Strukturen, mit denen wir versuchen, globale Steuerungsdefizite auszugleichen.
Das heißt, auch Unternehmen bekommen hier neue Aufgaben hinzu und damit natürlich auch neue Verpflichtungen. In internationalen Dokumenten spricht man hier von Risk Based Due Diligence, also risikobasierten Sorgfaltspflichten. Und das ist nicht trivial, sondern birgt erhebliche Risiken, wenn wir etwa an die Themen Menschenrechte oder Beschwerdemechanismen denken.
Sie wollen Unternehmen also daran erinnern, dass sie Teil der Gesellschaft sind und deshalb auch Pflichten haben?
Prof. Wieland: Das Buch von Adam Smith heißt „The Wealth of Nations“ und nicht „The Wealth of Shareholders“. Deshalb müssen sich Leitung, Management und Sozialpartner sehr genau Gedanken darüber machen, was das für das eigene Geschäftsmodell bedeutet: Was wird die künftige Antriebstechnologie für Autos sein? Werden wir überhaupt noch Autos akzeptieren, um Mobilitätsfragen zu beantworten? Wie wird die Energieversorgung von morgen aussehen? Welche Technologien und Logistik braucht urbanes Leben? Das sind keine abstrakten Fragen, sondern solche, für deren Beantwortung wir zunächst gute Ingenieure und wirksame Managementverfahren brauchen. Daher die Diskussion zur Social Innovation oder die Einbeziehung der Stakeholder in das Innovationsmanagement. Daher die neuen Formen der Corporate Governance wie etwa Stakeholder Advisory Committees. Am Markt sind heute erfolgreiche Innovationen häufig nicht mehr nur eine Frage der Ingenieurskunst, sondern der Beschaffung von Vertrauen und Legitimation. Diese Art der Unternehmerführung zielt nicht alleine auf reines Reputations- oder Brand-Management ab, sondern auf die Fähigkeit, die Ressourcenkooperation erfolgreich nutzen zu können. Das ist die Kernfähigkeit für Corporate Responsibility.
Was bedeutet das für Anforderungen an Leitbilder und Corporate Governance?
Prof. Wieland: Das hat in der Tat Konsequenzen für die Corporate Governance. So werden sich die Risikomanagementsysteme in Unternehmen nicht länger nur mit Finanz- oder Geschäftsrisiken beschäftigen, sondern sie müssen auch Compliance-Risiken, die im Bereich der Integrität, der sozialen Akzeptanz von Technologien oder im Bereich der Menschenrechte liegen, beachten. Die Risikomanager werden dafür Systeme entwickeln müssen, um zum Beispiel die erwähnte Risk Based Due Diligence auf Menschenrechtsfragen oder allgemeine Social Compliance anzuwenden. Hier gibt es erste Ansätze, aber niemand weiß im Moment ganz genau, wie effektive Systeme für diese Bereiche aussehen. Ein weiterer Aspekt ist, wie bereits erwähnt, den Dialog mit Stakeholdern zu institutionalisieren. Ein Weg, den auch in Deutschland einige Unternehmen gegangen sind, sind Stakeholder Advisory Councils oder Committees, um über diesen systematischen und kontinuierlichen Dialog die moralischen oder auch technischen Ansprüche der Gesellschaft an Produkte, Service- oder Organisationsverfahren in das Unternehmen einzubringen. Das wäre vor wenigen Jahren undenkbar gewesen. Da hätte man gesagt, dass dafür Marktanalysen und die Bearbeitung des politischen Raumes ausreichen. Und schließlich drittens die Anforderungen an die Qualifikation und die Dynamik von Aufsichtsräten. Reicht es, wenn man den Bericht der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft entgegennimmt oder wie weit reicht die Prüftiefe selbst? Board Dynamic und Board Activities sind nicht ohne Grund heute Themen in der wissenschaftlichen und praktischen Diskussion zur Corporate Governance.
Das klingt für mich nach einer Art von globaler Managementkultur. Tatsächlich ist es doch so, dass es weltweit unterschiedliche Formen von Unternehmenskultur gibt und auch unterschiedliche gelebte Formen von Governance. Glauben Sie, dass sich das zu einem globalen Stil einpendelt?
Prof. Wieland: Das ist in der Tat eine der großen Herausforderungen. Wir brauchen auf dieser Ebene transkulturelle Standards, nicht einfach nur interkulturell verschiedene Standards. Es gibt, und das wird es auch immer geben, unterschiedliche kulturelle Deutungen zu Traditionen im Bereich von Führung und Management, aber das muss Hand in Hand gehen mit der Entwicklung eines transkulturellen Managementverständnisses. Transkulturell heißt dabei nicht, kulturelle Differenzen zu ignorieren, wohl aber, dass wir zusätzlich noch stärker die Gemeinsamkeiten betonen. Ein Beispiel ist das Diversity Management von Unternehmen, wo man dann nicht nur interkulturelle Trainings machen sollte, sondern eben auch transkulturelle Trainings. Ziel eines solchen Trainings wäre es, die Manager nicht nur über kulturelle Unterschiede aufzuklären, sondern sie auch zu befähigen, in schwierigen Situationen Gemeinsamkeiten für möglich zu halten, zu sehen, damit man gemeinsam den nächsten Schritt gehen und zu praktischen Lösungen als gemeinsamer Lernprozess kommen kann.
Es wird noch auf eine lange Zeit hin einen Wettstreit von Wirtschaftssystemen geben. Die VR China zum Beispiel hatte zu keinem Zeitpunkt die Idee, die Kooperation mit dem Westen dahingehend zu veredeln, dass sie unsere Form der Marktwirtschaft übernimmt, auch wenn manche im Westen sich das vielleicht gewünscht haben. China wollte schon immer eine Marktwirtschaft mit einer - kulturell und politisch - chinesischen Färbung. Deshalb gibt es dort heute auch Business Schools, wo Konzepte des „Konfuzian Entrepreneurship Management“ gelehrt und beforscht werden.
Führt so ein Wettstreit der Modelle nicht zu Konflikten?
Prof. Wieland: Ja, vermutlich wird es das geben, aber ich sehe dieser Diskussion mit Optimismus entgegen. Es beendet zunächst den Glauben, dass die Ordnungsvorstellungen, die wir im Westen entwickelt haben, automatisch auch für den Rest der Welt gelten könnten. Das ist nicht selbstverständlich, das gilt es zu lernen. Sodann werden wir mehr über die Möglichkeiten globaler und langfristiger Kooperationen lernen. Um internationalen Handel zu betreiben, mag es ja reichen, wenn man sich über die Sitten und Gebräuche in anderen Ländern informiert und sie toleriert. Wenn man aber „Global Economy“ betreibt, dann muss man langfristig kooperieren, man investiert vor Ort und muss Erwartungssicherheiten geben und haben. Und dieser Übergang vom Handel zur Investition, vom Tausch zur langfristigen Kooperation, der verlangt, dass man Diversität so behandelt, dass neben den Differenzen auch die Gemeinsamkeiten auftreten können. Diese Balance zwischen Differenz und Gemeinsamkeit auf allen Ebenen herzustellen, individuell und organisatorisch, politisch und ökonomisch, ist eine Herausforderung.
Lesen Sie den vollständigen Beitrag einschließlich seiner Empfehlungen für nachhaltige Ausbildung und interkulturelles Management im Jahrbuch Global Compact Deutschland 2015.
Prof. Dr. habil. Josef Wieland lehrt am Lehrstuhl für Institutional Economics, Organisational Governance, Integrity Management & Transcultural Leadership an der Zeppelin University Friedrichshafen und ist Direktor des neu gegründeten Leadership Excellence Instituts Zeppelin (LEIZ).