Social Compliance – ein unterschätzter Wettbewerbsfaktor
Deutschland ist mit seinen Wirtschaftsstrukturen stark in den globalen Handel eingebunden: Rund 31 Mrd. Arbeitsstunden werden jedes Jahr außerhalb Deutschlands geleistet, um die Nachfrage des deutschen Marktes nach Produkten und Dienstleistungen zu decken. Auf zwei in Deutschland geleistete Arbeitsstunden kommt somit eine im Ausland.
28.03.2014
Zwei Drittel dieser ausländischen Arbeitsstunden unterliegen dabei dem erhöhten Risiko, unter schlechten Arbeitsbedingungen abgeleistet zu werden. Die Textilindustrie verzeichnet mit 3,4 Mrd. Stunden bei weitem die meisten Risikostunden. Aber auch andere Industrien, wie die Elektronikindustrie mit 1,7 Mrd. Stunden oder der Fahrzeugbau mit 1,2 Mrd. Stunden, haben signifikante Risiken in ihren Lieferketten (vgl. Abbildung 4).
Diese gewaltige Anzahl an Risikostunden kumuliert dabei über alle Stufen der Lieferkette. Wo genau in der Lieferkette die Risiken anfallen ist brancheabhängig. So liegt z.B. für einen deutschen Textilhändler der größte Anteil an Risikostunden bereits in der 1. Stufe der Lieferanten (Tier 1). Grund dafür ist, dass Bekleidungsunternehmen häufig in Regionen einkaufen, in denen risikoreichere Arbeitsbedingungen vorherrschen (z.B. Bangladesch).
Umgekehrt ist es im Fahrzeugbau: Die direkten Lieferanten („Tier 1“) sind häufig in Deutschland ansässig und verfügen somit über risikoärmere Strukturen. Diese Tier 1 Lieferanten greifen allerdings auf Lieferanten mit Fertigungsstätten in risikoreicheren Ländern zurück (z.B. China). Die Risikostunden akkumulieren sich damit für den Fahrzeugbau eher weiter unten in der Lieferkette (Tier 2, 3, 4-n) (vgl. Abbildung 7). Wenig verwunderlich ist, dass mit jeder Tierstufe industrielle Vorprodukte sowie Produkte der Landwirtschaft und Rohstoffgewinnung an Bedeutung gewinnen und das Gesamtrisiko maßgeblich beeinflussen (vgl. Abbildung 8).
Damit fallen viele Menschenrechtsverletzungen in Tier-Stufen an, die – aus Sicht eines deutschen Fahrzeugbauers – zunächst irrelevant erscheinen, weil es zu diesen Vor-Vorlieferanten keine direkten Vertragsbeziehungen gibt. Dies gilt aber nur so lange, bis ein Nachweis erbracht wird, dass Produkte aus eben diesen Tier-Stufen in ein bekanntes Markenprodukt einfließen. In der Öffentlichkeit wird dann wenig differenziert und die Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen wird klar dem Markenunternehmen zugeschrieben.
Dass diese Sichtweise bereits heute Realität ist, zeigt eine Veröffentlichung von Greenpeace aus dem Mai 2012, die einer Reihe von namhaften Automobilherstellern vorwirft, dass in ihren Lieferketten bei der Herstellung von Roheisen in Brasilien neben illegaler Abholzung des Regenwaldes auch Zwangsarbeit und massive Verstöße gegen Gesundheits- und Sicherheitsstandards stattfinden. Mit diesem Bericht griff Greenpeace 2012 ein Thema wieder auf, das bereits im November 2006 durch Bloomberg in die Öffentlichkeit getragen wurde.
Es ist unbestreitbar: Das Thema Arbeitsbedingungen in der Lieferkette hat Auswirkungen auf den Unternehmenswert. Dabei sind vier wesentliche Werttreiber zu unterscheiden (vgl. Abbildung 10):
Reputation: Unternehmen sind auf eine gute Reputation angewiesen, sowohl intern, um die Ansprüche bestehender und potenzieller neuer Mitarbeiter an das Unternehmen zu erfüllen, als auch extern, beispielsweise um relevante Käufergruppen zu erhalten oder zu erschließen. Durch die international immer stärkere Vernetzung und Digitalisierung der Medien steigt die Wahrscheinlichkeit, dass bestehende Probleme in Lieferketten schnell aufgedeckt und bekannt werden. Im Falle von „Social Non-Compliance“ in der Lieferkette sind negative Reputation für ein Unternehmen heute sehr wahrscheinlich.
Liefersicherheit: Schlechte Arbeitsbedingungen bergen ein erhebliches operationelles Risiko. Kommt es zum Ausfall einer Fertigungsstätte (z.B. durch Streik oder Brand), fehlen schlagartig Fertigungskapazitäten in der Lieferkette. D.h. meist können Aufträge, die bei den betroffenen Fabriken platziert wurden, nicht schnell genug auf andere Fabriken umgeleitet werden und in der Folge fehlen Vorprodukte und/oder die Waren zum Verkauf.
Qualität: Weiterhin fördern schlechte Arbeitsbedingungen die Mitarbeiterfluktuation. Eine erhöhte Wechselbereitschaft in der Mitarbeiterschaft erschwert es Unternehmen erheblich, z.B. die gleichbleibende Qualität ihrer Produkte sicherzustellen bzw. die Qualitätsanforderungen ihrer Kunden zu erfüllen. Es kommt zudem zu Ineffizienzen im Produktionsablauf. Beides führt zu höheren Kosten und zu Frustrationen in der Kunde-Lieferant-Beziehung.
Regulierung: Politische Instanzen erwarten zunehmend, dass Arbeitsbedingungen eingehalten werden. Unternehmen in Kalifornien müssen seit dem 1. Januar 2012 darüber berichten, wie sie sicherstellen, dass ihre Lieferketten frei von Sklaverei und Menschenhandel sind. Es gibt darüber hinaus bereits Fälle, in denen Markenunternehmen für die Produktionsbedingungen in ihren Lieferketten haftbar gemacht werden. Bekanntestes Beispiel sind die „Saipan Lawsuits“, bei der 26 US-amerikanische Einzelhändler und 23 Textilfabriken wegen schlechter Arbeitsbedingungen in den Produktionsbetrieben verklagt wurden und einem Vergleich in Höhe von insgesamt rund 20 Mio. US-Dollar zustimmten.
Natürlich darf nicht nur die Risikoseite von Social Compliance betrachtet werden. Im Umkehrschluss ergeben sich positive Umsatz- und Ergebniseffekte, wenn Arbeitsbedingungen in der Lieferkette professionell gemanagt werden: Die Zuverlässigkeit der Lieferkette wird verbessert, die Akzeptanz von Kundengruppen für Produkte steigt, Markenwerte werden erhöht, Effizienzsteigerungen in der Beschaffung werden möglich.
Trotz dieses Wissens ist es verwunderlich, dass Unternehmen die Potentiale von Social Compliance noch nicht ausschöpfen. Doch dies wird sich ändern: Das Thema Arbeitsbedingungen in der Lieferkette wird einen ähnlichen Weg nehmen wie ihn das Thema Qualität in den letzten 40 Jahren genommen hat. Ausgelöst durch eine Qualitäts- und Produktivitätsrevolution in Japan hatten Unternehmen in anderen Industreistaaten zunächst ihre internen Fähigkeiten für ein besseres Qualitätsmanagement erhöht, um dann zu realisieren, dass ohne eine Einbindung der Lieferkette nachhaltige Erfolge nicht erreicht werden können. Heute ist ein integriertes, Supply-Chain übergreifendes Qualitätsmanagement Standard (vgl. Abbildung 11).
Fast spiegelbildlich findet dieser Prozess heute zum Thema Sozialverantwortung statt. In den vergangenen Jahren haben Unternehmen damit begonnen, die Arbeitsbedingungen im eigenen Hause zu hinterfragen. Sie haben z.B. Maßnahmen zur Mitarbeiterzufriedenheit oder Mitarbeitergesundheit ergriffen. Jetzt setzt sich die Erkenntnis durch, dass eine weitere Lieferketten-Verbesserung u.a. davon abhängt, dass mindestens die grundlegenden Standards guter Arbeitsbedingungen in der Supply Chain eingehalten werden. Das Management von Social Compliance in der Lieferkette wird zum Wettbewerbsfaktor und bekommt Geschäftsführungsrelevanz.
Damit stellt sich die Frage, wie dieses Thema von Unternehmen anzugehen ist. Es gibt keinen „One size fits all“-Ansatz für gute Arbeitsbedingungen. Unternehmen müssen sich jeweils in ihrem spezifischen Unternehmenskontext mit dem Thema auseinanderzusetzen. Dies kann in vier Schritten erfolgen.
Im ersten Schritt müssen die eigenen Anforderungen eines Unternehmens an die Lieferkette erfasst und Transparenz über die Lieferkette erreicht werden: Von welchen Lieferanten aus welchen Ländern werden welche Vorprodukte bezogen; wo und wie beschaffen diese Lieferanten wiederum ihre Vorprodukte, usw. Dies ist nicht selten die größte Herausforderung, da viele Unternehmen über ihre direkten Zulieferer hinaus nicht wissen, wo ihre Vorprodukte herkommen.
Um diese Wissenslücken zu schließen, gibt es neue Analysemöglichkeiten. Lebenszyklusmodelle, multiregionale Input-Output-Verfahren und Datenbanken zu globalen Sozialrisiken ermöglichen heute eine aussagekräftige Orientierung, in welchen Ländern, Branchen und auf welcher Stufe in der Lieferkette Social Compliance Risiken existieren.
Sind die Lieferketten strukturell analysiert und weiß ein Unternehmen, wo und in welchem Umfang mit erhöhten Risiken zu rechnen ist, werden in einem zweiten Schritt die jeweiligen Chancen und Risiken bewertet. Dafür sollten die vier Dimensionen Reputation, Liefersicherheit, Qualität und Regulierung herangezogen (s.o.) werden. Die Bewertung erlaubt eine Priorisierung der Handlungsfelder.
Für die priorisierten Handlungsfelder müssen in einem dritten Schritt die tatsächliche Situation der Arbeitsbedingungen in der Lieferkette identifiziert werden. Hierzu können Ergebnisse von Self-Assessments, Erkenntnisse von standardisierten oder firmenspezifischen Assessments vor Ort (Audits) und externer Stakeholder herangezogen werden. Dabei gilt es, eine qualitativ möglichst gute Evaluierung der Situation in der Vielzahl verschiedener Fertigungsstätten zu erhalten.
Sollte die Bestandsaufnahme im dritten Schritt ergeben, dass es Bereiche mit Handlungsbedarf gibt, werden Qualifizierungsmaßnahmen der Produktionsstätten notwendig (Schritt 4). Dazu müssen die Ursachen für die Social Compliance Probleme im Detail identifiziert und zusammengetragen werden, um darauf aufbauend eine angepasste Qualifizierung einzuleiten. Hierbei müssen sich das beschaffende Unternehmen und die Lieferanten einbringen.
Es gilt, dem Lieferanten zu veranschaulichen, warum die gestellten Anforderungen eine Relevanz für sein eigenes Unternehmen haben. Die Qualifizierung kann von individuellen Programmen in den Fertigungsstätten bis zu Workshops mit einer Gruppe von Lieferanten reichen. Diese vier Schritte sind in einem kontinuierlichen Prozess zu durchlaufen, um so sukzessive die Potentiale, die sich aus guten Arbeitsbedingungen in der Lieferkette ergeben, auszuschöpfen.
Abschließend lässt sich festhalten, dass ein zukünftiges Supply Chain Management nur dann erfolgreich sein wird, wenn Arbeitsbedingungen als integraler Bestandteil des Lieferanten- oder Supply Chain Managements verstanden und von Beginn an strategisch verankert werden. Dazu muss der Umgang mit Social Compliance zum einen in der Lieferkette als Bestandteil der Unternehmensstrategie definiert werden und zum anderen sich die oben skizzierten Aktivitäten im Einkaufsverhalten widerspiegeln.
Der Beitrag erschien im Original im Jahrbuch Global Compact Deutschland 2013
Torben Kehne ist Director Social Compliance bei Systain Consulting,
Hubertus Drinkuth, Managing Director Systain Consulting.