Integration oder Zerfall? Sachbuch zur Zukunft Europas
Der Sammelband "Solidaritätsbrüche in Europa" bietet mit fundierten Analysen der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konstellationen eine aktuelle Diskussionsgrundlage zu Entwicklungen in Europa. Europa steht am Scheideweg, die Zustimmung zu diesem politischen Projekt schwindet in der Bevölkerung, beobachten die Herausgeber Wolfgang Aschauer, Elisabeth Donat und Julia Hofmann.
18.09.2015
Die Grexit-Debatte hat es gezeigt: Die Finanz- und Wirtschaftskrise hält Europa weiterhin in ihrem Bann. Soziale Ungleichheiten steigen, und ein Klima der Verunsicherung bewirkt in vielen Mitgliedsstaaten den Wunsch nach nationaler Abgrenzung. Nach Ansicht von Wolfgang Aschauer befindet sich Europa am Scheideweg: „Brüche der Solidarität zwischen EU-Staaten und den beteiligten Völkern am Projekt Europa treten immer offener hervor.“ Das hätten das griechische Nein-Votum gegen die europäische Sparpolitik genauso gezeigt wie die zunehmenden Stimmen für einen Ausschluss der Griechen aus der Währungsunion. Die zukünftige Entwicklung – hin zu einer weiteren Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion oder hin zu einem sukzessiven Zerfall der europäischen Integration – sei schwer zu prognostizieren.
Mangelnde Solidarität wegen Abstiegsängsten
„Eine wissenschaftliche Analyse der europäischen Integrationsthematik und der soziologischen Folgen der gegenwärtigen Wirtschaftskrise hat den Nachteil, dass fundierte Forschung viel Zeit braucht und aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen in der Regel erst im Rückblick betrachtet werden können“, sagt Wolfgang Aschauer.
Der Sammelband bildet nach Aschauer aber eine Ausnahme, denn die konzeptionellen Beiträge und empirischen Studien aus mehreren Ländern stammen von Soziologen, die sich seit Jahren mit der Gefahr von Entsolidarisierungsprozessen in Europa befassen. Thematisiert werden sowohl die institutionellen als auch die gesellschaftlichen Dynamiken gegenwärtiger Solidaritätsbrüche. Während Stefan Immerfall beispielsweise auf Basis der fortschreitenden EU-Integration keine Stärkung der transnationalen Solidarität, sondern eine Gefährdung des europäischen Zusammenhalts prognostiziert, geht Max Haller noch einen Schritt weiter.
Er plädiert für eine abgestufte Integration, um der gegenwärtigen West-Ost- und Nord-Süd-Spaltung Europas besser gerecht zu werden. Wolfgang Aschauer selbst befasst sich in seinem Beitrag mit der zunehmenden Spannung zwischen der Systemintegration auf institutioneller Ebene und der Sozialintegration auf gesellschaftlicher Ebene. Aus seiner Sicht ist die abnehmende Solidarität der Bürger vorrangig auf individuelle Verunsicherungen zurückzuführen: „Die Menschen sind gesellschaftlichen Abstiegsängsten ausgesetzt und kompensieren diese – vereinfacht gesprochen – mit einer ego- oder ethnozentrischen Sicht auf die Welt.“
Aktuelle Entwicklungen in Europa im Fokus
Weitere Beiträge setzen die benachteiligten Bevölkerungsschichten ins Zentrum ihrer Analysen – die Bandbreite reicht von Armutstafeln und Hartz IV-Reformen in Deutschland über die Schattenseiten des Sozialstaates am Beispiel des Invalidenversicherungsgesetztes der Schweiz bis hin zu europäischen Wanderarbeitern, die unter erschwerten Bedingungen ihren Lebensunterhalt bestreiten. Zudem nimmt die Ausformung von Vorurteilen einen prominenten Stellenwert im Buch ein, für die in der aktuellen Krise nicht mehr nur die sogenannten „Modernisierungsverlierer“, sondern breitere gesellschaftliche Kreise empfänglich sind. Die Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise wird Europa noch über Jahre prägen. Das Buch befindet sich damit am Puls der Zeit, so Aschauers Fazit: „Die Beiträge nehmen zukunftsweisende Entwicklungen in Europa in den Blick.“
Das Buch kann über den Handel oder direkt bei Springer VS für 39,99 Euro bestellt werden. Das E-Book kostet 29,99 Euro.
Die Autoren
Dr. Wolfgang Aschauer ist Assistenzprofessor im Bereich Europäisch vergleichende Sozialstrukturanalyse am Fachbereich Politikwissenschaft und Soziologie, Abteilung Soziologie und Kulturwissenschaft der Universität Salzburg.
Dr. Elisabeth Donat ist am Fachbereich Politikwissenschaft und Soziologie, Abteilung Soziologie und Kulturwissenschaft der Universität Salzburg tätig.
Julia Hofmann ist Universitätsassistentin am Institut für Soziologie der Universität Linz.