"Ob der Mensch von Natur eher gut oder schlecht ist, bleibt im Grunde egal"
Dr. Cornelia Nietsch-Hach erklärt im Interview, warum es sich auch wirtschaftlich lohnt, soziale Verantwortung zu übernehmen und inwiefern eine Kindergartenpflicht zu moralischem Handeln in der Wirtschaftswelt verhelfen kann. Die Autorin von „Ethisches Verhalten in der modernen Wirtschaftswelt“ lehrt an der FOM Hochschule für Ökonomie und Management in Berlin.
22.08.2016
Frau Dr. Nietsch-Hach, lässt sich ethisches oder unethisches Verhalten in der modernen Wirtschaftswelt messen? Wie ethisch ist die Wirtschaft in Deutschland?
Cornelia Nietsch-Hach: Der Sozialstandard SA 8000 ist der erste weltweit zertifizierte Standard für eine sozial verantwortliche Unternehmensführung. Zu den Indikatoren gehören z.B. Arbeitspraktiken & Beschäftigung (Aus- und Weiterbildung, Arbeitszeitmodelle etc.) oder die ökologische Leistung (Verbrauch an Material und Energie, Emissionen etc.) eines Unternehmens. Auch gibt es die Möglichkeit, ein eigenes Kennzahlensystem zu entwickeln (Balanced Scorecard), in dem auch Kriterien, wie die Anzahl von öffentlichen Beschwerden, Strafzahlungen, Mitarbeiterzufriedenheit oder Auszeichnungen/Preise integriert werden.
Wie ethisch die Wirtschaft in Deutschland ist, lässt sich anhand von Kriterien, wie der genannten Zertifizierung nach dem Sozialstandard SA 8000, vergleichend messen. Ein weiteres Indiz liefert der Korruptionwahrnehmungsindex (CPI), der jährlich von der Antikorruptionsorganisation Trancparency International (TI) veröffentlicht wird. Für den CPI 2012 wurden 176 Länder bewertet. Die besten Länder sind Dänemark, Finnland und Neuseeland mit 90 von 100 Punkten. Beamte und Politiker dieser Länder werden als besonders integer wahrgenommen. Das Schlusslicht bilden Afghanistan, Nordkorea und Somalia. Diese Länder leiden insbesondere unter schwach ausgeprägten Rechenschaftspflichten für Führungspositionen. Deutschland nimmt auf Platz 13 (Vorjahr Platz 14) mit 79 von 100 Punkten im Umfeld vergleichbarer Länder eine mittlere Position ein. TI weist darauf hin, dass die Korruptionsrisiken im öffentlichen Sektor und die Ursachen der Finanzkrise noch völlig unzureichend angegangen werden.
Wohl keiner möchte eine Welt voller Armut, Korruption, Kinderarbeit und Umweltzerstörung. Wieso haben wir sie dann?
Nietsch-Hach: Es gelingt nicht flächendeckend, eine vernünftige individuelle und kollektive Selbstbindung zu erreichen. Auf der einen Seite erleben wir Aufmerksamkeit, Mitgefühl und Spendenbereitschaft, auf der anderen Seite Umweltzerstörung und Ausbeutung. Die Gelehrten streiten seit je her darüber, ob die menschliche Natur eher von empathievollem Sozialverhalten geprägt ist oder von Neid, Gier und Machtwillen. Die meisten Menschenbilder gehen davon aus, dass sowohl gute als auch schlechte Anlagen vorhanden sind, die durch Erziehung beeinflusst werden können. Ob der Mensch von Natur eher gut oder schlecht ist, bleibt im Grunde egal. Es geht vielmehr darum, wie er sich durch Sozialisation, Zivilisation und Medizin entwickelt.
Um moralische Entscheidungen zu treffen, benötigen wir nicht nur eine moralische Hardware im Sinne einer genetischen Vorprägung, sondern auch eine moralische Software mit geeigneter Programmierung, herbeigeführt z.B. durch Erziehung und Erfahrung. Das selbstreflektierende Ich, das als Gewissen sagt, was zu tun oder zu lassen ist, befindet sich neurobiologisch im orbifrontalen Cortex des Gehirns. Patienten mit Störungen in diesem Bereich verhalten sich typisch unmoralisch und auch rücksichtslos gegen sich selbst. Bei Persönlichkeitsstörungen oder neurologischen Schäden können Personen unterschiedliche Rollen spielen, wie z.B. den liebevollen Familienvater und den brutalen KZ-Aufseher.
Was könnte ein Unternehmen, das maximal am Gewinn orientiert ist, dazu bewegen, ethisch zu handeln?
Nietsch-Hach: Soziale Verantwortung und finanzieller Erfolg müssen nicht unbedingt einen Zielkonflikt darstellen. Eine genaue Kosten-Nutzen-Relation für ethisches Verhalten aufzustellen, fällt aufgrund des schwierig quantifizierbaren Nutzens schwer. Es gibt Studien, die z.B. den finanziellen Erfolg von Unternehmen mit und ohne Ethikgrundsätze untersuchten. Dabei schnitten die über vier Jahre untersuchten Unternehmen, 100 Aktiengesellschaften an der Londoner Börse, mit Unternehmensgrundsätzen besser ab. Ethikgrundsätze allein auf dem Papier reichen dabei nicht aus. Sie müssen auch praktiziert werden. Die Integration von weichen Faktoren, wie Korruptionsanfälligkeit, im Risikomanagement kosten zwar Geld, zahlen sich aber langfristig aus. Man braucht nur an die hohen Strafzahlungen z.B. der Fa. Siemens in der letzten Zeit zu denken.
Wie kann der Staat die Rahmenbedingungen für ethisches Verhalten in der Wirtschaft verbessern?
Nietsch-Hach: Aufgrund neurobiologischer und psychologischer Erkenntnisse lässt sich ableiten, dass moralisches Verhalten in der Gesellschaft aus einer Wechselwirkung von
- der individuellen genetischen Grundausstattung der Gehirnentwicklung,
- frühen psychischen Erfahrungen und
- weiteren psychosozialen Faktoren in der Familie und Umwelt geprägt wird.
Moralisches Urteilen ist eine Fähigkeit, die sich vom Kindesalter bis in das Erwachsenenalter entwickelt, also trainierbar ist. Dabei haben spätere Einflüsse im Erwachsenenalter in der Regel eine weitaus geringere Wirkung als Erfahrungen in der Kindheit und Jugend.
Der Staat kann durch eine qualifizierte Erziehung in Kitas und Schulen immens wichtige Beiträge für eine positive Sozialisation des Nachwuchses schaffen. Hierzu müssen Erzieher und Lehrer quantitativ und qualitativ ausreichend ausgebildet werden. In diesem Kontext sind eine Kindergartenpflicht und die Ganztagsschule insbesondere für Kinder mit schwachem sozialem Hintergrund von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
Bei Auswüchsen in der Wirtschaft, wie Korruption oder Ausbeutung, kann der Staat noch konsequenter agieren. So ist z.B. die Ratifizierung der UN-Konvention zur Korruptionsbekämpfung bereits von 170 Staaten unterschrieben, nicht jedoch von Deutschland. Außerdem sind Leute, die Missstände in ihren Unternehmen öffentlich machen, die sogenannten Whistleblower (Verpfeiffer), vergleichsweise schlecht geschützt.
Brauchen wir für ethisches Handeln immer Maßgaben wie Gesetze oder religiöse Gebote?
Nietsch-Hach: Im Rahmen einer positiven Sozialisation hilft die Orientierung an Handlungsmaximen, ob auf religiöser oder gesetzlicher Basis, ist im Grunde nebensächlich. Alle großen Kulturen, wie der Hinduismus, der Konfuzianismus, die Philosophie des antiken Griechenlands, das Christentum oder das Judentum lehren die goldene Regel „Was Du nicht willst, dass man dir, tu‘, das füg‘ auch keinem anderen zu.“ Ich glaube nicht, dass man in einer Gemeinschaft ohne Regeln oder einen Orientierungsrahmen auskommt.
Vielen Dank für das Gespräch!
Cornelia Nietsch-Hach
Ethisches Verhalten in der modernen Wirtschaftswelt
Taschenbuch Verlag: UVK 2016, 246 Seiten
ISBN 978-3-86764-718-2
€ 29,99
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