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"Der Markt" existiert nicht

Der Markt diktiert unsere Wirtschaft: Er zwingt Unternehmen zu Entlassungen, scheucht die Politik vor sich her oder reagiert nervös. Doch existiert dieser „Markt“ überhaupt? Und was verbirgt sich dahinter? UmweltDialog sprach mit den beiden Buch-Autoren.

07.08.2017

Wir sagen im Alltag oft, dass der Markt dieses oder jenes entscheiden soll oder wird. Sie schreiben in Ihrem neuen Buch, dass es den Markt gar nicht gibt. Wie das?

Peter Seele: Der Begriff Markt ist eine Erfindung, die zusammenfassend dafür stehen soll, dass Marktteilnehmer Handel treiben. Der Markt ist ein technischer Allokationsmechanismus, aber gewiss keine Person oder Autorität, die etwas befiehlt oder entscheidet. Das sind eher Mechanismen, die von manchen angewendet werden, um Verantwortung an „den Markt“ abzugeben. Darauf wollen wir hinweisen.

Sie empfehlen uns also, den Marktbegriff näher unter die Lupe zu nehmen. Das macht Sinn. Fangen wir historisch an: Wie ist unser heutiges Marktverständnis entstanden?

Lucas Zapf: Den Markt gibt es immer schon als realen Ort – als Agora, oder als Wochenmarkt. Eine übersichtliche Angelegenheit. Je mehr Teilnehmer es auf einem Markt gibt, desto unübersichtlicher. Globale Märkte von heute sind nicht mehr zu überblicken. Aber sie funktionieren – Anbieter und Nachfrager kommen zusammen, handeln und tauschen. Das versteht man in der ganzen Größe nicht genau, aber man nutzt den Markt und profitiert davon. Irgendwo in dieser erfolgreichen Unübersichtlichkeit ist der Eindruck entstanden, der Markt ist eine eigenständige Macht, die Gutes tut. Und die strafen kann.

Wer heute Wirtschaft studiert, lernt in der Vorlesung, dass alle Märkte nach Gleichgewicht streben. Wie sehen Sie das?

Peter Seele: Da es „die Märkte“ ja nicht gibt, streben diese auch nach nichts. Null mal X ergibt Null. Was es gibt sind einzelne Personen - natürliche und juristische - , die miteinander wirtschaften. Jede einzelne Transaktion, jede einzelne Verhandlung um den Preis ist ein je für sich gültiges Gleichgewicht. Von mehr zu sprechen, auch wenn es der gängigen Lehrmeinung widerspricht, ist in unseren Augen Voodoo oder zumindest Ideologie. Und dass „die Märkte“ nicht nach Gleichgewicht streben, sieht man allein durch die Verzerrungen wie die Entkopplung von Risiko und Verantwortung oder Zinspolitik durch Zentralbanken.

Lucas Zapf: Marktgleichgewichte sind eine Denkhilfe. Mit ihnen können Vorgänge in der Wirtschaftstheorie modelliert werden. In der Realität ist dieser wundersame Mechanismus selten zu sehen. Eher beobachten wir das Gegenteil: Marktverzerrungen von Außen, die Ungleichgewichte bewirken.

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Ich komme noch mal auf den Gleichgewichtsgedanken zurück. Er steht für die neoklassische Wirtschaftstheorie, nach der man die Märkte einfach machen lassen soll. Manche sprechen hier sogar von Selbstheilungskräften der Märkte. In ihrem Buch setzten Sie sich mit diesem „Marktgott“ auseinander. Was sind Ihre Beobachtungen?

Lucas Zapf: Der Marktgott ist eine rhetorische Konstruktion, die dem Markt eine magische Eigenständigkeit unterstellt. Wenn man diese Macht gewähren lässt, wird alles gut und alle reich. Schaut man sich allerdings an, in welchem Kontext dieser Gott angerufen wird, fällt auf: Meistens wird hinter diesem Marktgott etwas versteckt. Arbeitsplätze müssen angebaut werden? Standorte verlegt? Das hat der allmächtige Markt entschieden! Der einzelne Akteur, der Manager, zieht sich aus der Verantwortung.

Peter Seele: Die sogenannten Selbstheilungskräfte – ebenso wie der berühmte trickle down Effekt, wonach alle davon profitieren, wenn die Reichen reicher werden – haben sich gerade in den letzten Jahren nicht so recht bewahrheiten wollen. Denn wir haben gar keine freien Märkte. Handelnde Individuen hingegen sollten so frei wie möglich sein. Das bedeutet Vertragsfreiheit und gesicherte Eigentumsrechte. Und – die Einheit von Risiko und Verantwortung – gerade auch für Externalitäten wie Umweltschädigungen oder Menschenrechtsverletzungen.

Ihr Fazit lautet, dass es „den Markt“ nicht gibt. Was gibt es dann?

Peter Seele: Es gibt einzelne handelnde Hände. Punkt. Es gibt nicht „den Markt“ und es gibt auch keine „unsichtbaren Hand“ des Marktes. Und auch darauf weisen wir im Buch hin: Adam Smith, der im „Wohlstand der Nationen“ den Begriff der unsichtbaren Hand erschuf, schrieb „wie mit unsichtbarer Hand“, nicht „durch“ unsichtbaren Hände. Diese kleine aber nicht unbedeutende Unterscheidung ist die Quintessens unseres Buchs.

Lucas Zapf: Es gibt nicht ‚den Markt’, der Gutes tut und Wohlstand schafft, wie es oft propagiert wird. Der Markt ist auch keine bösartige Macht, die Politik oder Händler zwingen oder bestrafen kann, wie es während der letzten Finanzkrise oft behauptet wurde. In unserem Buch haben wir viele Beispiele solcher Vergötterungen gesammelt. Was es stattdessen gibt, sind einzelne handelnde Hände. Der Markt ist nicht mehr und nicht weniger als ein technischer Mechanismus, der Handel und Tausch koordiniert. Und zwar mit unerreichter Effizienz. Ganz weltlich, ohne metaphysische Tricks.

Über die Autoren:

Peter Seele ist Professor für Corporate Social Responsibility & Business Ethics, ausgebildet als Ökonom, Philosoph und protestantischer Theologe. Lucas Zapf ist Postdoc, Religionsökonom und interdisziplinärer Geisteswissenschaftler. Beide arbeiten an der Università della Svizzera italiana in Lugano.

Mit dem Marktgedanken verbinden wir auch immer weiteres Wachstum, immer neue Anreize und Konsumwünsche. Das ist wenig nachhaltig. Haben Sie einen Ratschlag für uns?

Peter Seele: Mit unserem „aufgeklärten“ Marktbegriff würde sich bei konsequenter Umsetzung auch einiges in Punkto sozialer Verantwortung und Nachhaltigkeit ändern. Wenn nicht „der Markt“ entscheidet, sondern jedes Wirtschaftssubjekt für sich unter Berücksichtigung der Einheit von Risiko und Verantwortung, dann wären viele riskante Deals, Produktinnovationen und über Schulden geleveragte Investitionen zu riskant. Das hieße – hier müssen wir realistisch sein – auch geringeres Wachstum. Aber aus ressourcenökonomischer Sicht wäre das nicht unbedingt falsch – gerade auch für zukünftige Generationen. Wir müssen uns halt eingestehen, dass wir am Tropf der Droge Wachstum hängen. Deshalb ist das Grundanliegen des Buchs auch Aufklärung und nicht Politik oder Ideologie.

"Der Markt" existiert nicht

Peter Seele, Lucas Zapf:
"Der Markt" existiert nicht
Aufklärung gegen die Marktvergötterung
Berlin 2017: Springer Verlag, 122 S.
ISBN 978-3-662-53940-8
EUR 24,99
Bestellservice

Quelle: UD
 

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