Pendeln verstehen: Status quo, Forschungsstand und Perspektiven
Der Pendelverkehr in Deutschland ging im Zuge der Corona-Pandemie deutlich zurück. Doch mit dem Ende der Homeoffice-Pflicht könnte sich der ursprüngliche Trend fortsetzen: Das Pendelaufkommen hatte sich zuletzt stetig erhöht. Wie eine nachhaltige Stadt-Umland-Mobilität zwischen Wohn- und Arbeitsort zukünftig aussehen kann, wird im Forschungsprojekt „PendelLabor" am Beispiel der Region Frankfurt Rhein-Main untersucht.
03.05.2022
Das Projektteam unter der Leitung des ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung hat einen Report erstellt, der den Forschungsstand und Perspektiven zur Pendelmobilität zusammenfasst. Der Report ist in der ISOE-Publikationsreihe „Materialien Soziale Ökologie“ erschienen.
Die Folgen einer hohen Pendelaktivität wie in der Region Frankfurt Rhein-Main sind hinreichend bekannt und individuell und gesellschaftlich relevant – für Gesundheit, Lebensqualität und Ökologie. Aber wie kommt es zum Pendelaufkommen, welche Verkehrsmittel werden genutzt und welche Motive führen zu der Entscheidung, Pendelwege auf sich zu nehmen? Im Verbundprojekt „PendelLabor" unter der Leitung des ISOE hat ein Team aus Forschung und Praxis die Datenlage zur Pendelmobilität für die Region Frankfurt und Umland ausgewertet und einen Forschungsansatz entwickelt, der es – auch für andere Regionen – ermöglicht, Pendeln ganzheitlich zu betrachten und die komplexen Wegeketten, Aktivitäten und Motive der Pendelnden zu erfassen.
In der Publikation „Pendeln verstehen: Status quo, Forschungsstand und Perspektiven“ stellen die Autor:innen diesen Ansatz sowie Szenarien für mögliche Entwicklungen vor. Sie haben hierfür eine weitreichende Literaturrecherche und Expert:innen-Workshops durchgeführt. Der Ansatz, den das Autorenteam verfolgt, geht davon aus, dass Pendeln weit mehr ist, als die herkömmliche Definition suggeriert. Demnach gelten lediglich Arbeitnehmer:innen, die für ihren Arbeitsweg zwischen Wohnung und Arbeitsort die Grenze der Wohngemeinde überschreiten, als pendelnd. Bei dieser Engführung der Definition werden Selbstständige, Beamte, Schüler:innen und Studierende jedoch nicht berücksichtigt. Zudem fallen Wege, die innerhalb einer Gemeinde verlaufen, nicht unter diese Definition.
Hohes Pendelaufkommen: Symptomlinderung greift zu kurz
Dies bilde das Geschehen vor allem in Großstädten aus Sicht der Mobilitätsexpert:innen unzureichend ab. Für nachhaltige Lösungsansätze, die die Verkehrswende weiter voranbringen, sei ein vollständiges Bild von der komplexen Pendelmobilität notwendig. „Vor allem müssen wir zu Lösungen kommen, die Pendeln nicht nur als ein Verkehrsproblem verstehen, das mit verkehrlichen Maßnahmen gelöst werden kann. Das wäre nur eine Art Symptomlinderung", sagt ISOE-Mobilitätsforscherin Jutta Deffner. Der Ausbau von Straßen oder die Empfehlung für Autofahrer:innen, auf den ÖPNV umzusteigen, löse die Pendelproblematik nicht im Kern. Vielmehr müssten die Alltagsorganisation und der Arbeitsalltag der Pendelnden besser miteinbezogen werden.
In ihrer Publikation zeigen die Autor:innen deshalb nicht nur verkehrliche Ausprägungen der millionenfachen Arbeitswege von A nach B. Sie verdeutlichen die zurückgelegten Arbeitswege auch nach Regionstypen und soziodemografischen Merkmalen und erstellen etwa eine Übersicht über das Pendelaufkommen nach Branchen, Alter und Geschlecht vor. Dabei bestätigt sich der klare „Genderbias", der sich auch in der Forschungsliteratur wiederfindet. Frauen seien stärker von den Auswirkungen auf Gesundheit und Partnerschaft betroffen als Männer. Gleichzeitig habe Pendeln nachweislich aber auch viele positive Effekte: Es könne grundlegend dafür sein, überhaupt einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu können, ohne das soziale Umfeld aufgeben zu müssen.
Arbeitsmodell bildet Komplexität des Pendelgeschehens ab
Die Autor:innen betonen zugleich die soziale, zeitliche und emotionale Dimension hinter den Zahlen, die zu den Pendelentscheidungen führen. „Für Millionen von Menschen ist Pendeln immer ein Transit zwischen Privatsphäre und Berufsleben, der fest in ihren Alltag integriert ist“, sagt Deffner. „Deshalb ist es wichtig, den Blick auf die Pendelmobilität zu weiten und Pendeln als soziale Praktik zu verstehen, für die es vielfältige Motive und komplexe Wirkungen auf andere Bereiche gibt.“ Als Arbeitsmodell haben die Autor:innen dafür ein „Wirkgefüge“ entwickelt, das zeigt, dass „klassische Einflussgrößen“ wie die Präferenz und Wahl des Verkehrsmittels nur ein Faktor in einem komplexen Zusammenhang sind. Auch die jeweilige Haushaltskonstellation, die Arbeitsorganisation oder die Wohnstruktur spielten eine wichtige Rolle.
Der integrierte Blick auf die verschiedenen Einflüsse auf das Pendeln und die Wirkungen, die davon ausgehen, ermöglicht es den Forschenden, Zusammenhänge zwischen Pendelverkehr, Individuum und Haushalt, Erwerbsarbeit und Unternehmen sowie Siedlungs- und Raumstruktur zu ermitteln. Das sei eine wichtige Voraussetzung, um passende Maßnahmen für Pendler:innen, Kommunen und Unternehmen zu entwickeln und Pendeln künftig sozial- und umweltverträglicher zu gestalten. Im transdisziplinären Forschungsprojekt PendelLabor werden solche Maßnahmen in einem nächsten Schritt auf der Grundlage von sozialempirischen Ergebnissen in einem Realexperiment entwickelt.