Work-Life-Balance – nein danke
Sprache kann das Denken behindern. Oder konkreter: Bestimmte Begriffe, die alle verwenden und einen grundsätzlichen positiven Klang haben, können sich als hinderlich erweisen, weil sie Lösungen für Probleme suggerieren. Und verschleiern, dass die Probleme weiterbestehen und die Lösungen vielleicht ganz woanders liegen. „Nachhaltigkeit“ ist oft so ein Hindernis für das Weiterdenken. Aber darum geht es heute nicht. Dieses Mal sprechen wir über „Work-Life-Balance“.
01.06.2016
Als Felicitas Richter kürzlich bei uns als Referentin zu Gast war, ging es um dieses Lösungswort aus der modernen Arbeitswelt. Die Referentin, selbst mehrfache Mutter und durch ihr berufliches Engagement zusätzlich gefordert, stellte sich vor ihr Publikum und streckte einen Arm seitwärts von sich. „Das ist die Last der Berufstätigkeit, die schwer auf uns liegt“ – und der Arm ging langsam nach unten. „Aber jetzt machen wir Work-Life-Balance“ – und streckte den anderen Arm von sich.
Auf diesen Arm packte sie dann die üblichen Ratschläge: sportlicher Ausgleich, Yoga, die „Verabredung mit sich selbst“ und was dergleichen Empfehlungen für alle die sind, die sich beruflich zu stark eingebunden fühlen. Aber hebt die Belastung des „Life“-Armes wirklich den „Work“-Arm und führt zu mehr Balance? Oder kommen dadurch nicht noch mehr Zeitstress, Planungsbedarf und latente Konflikte ins Leben? Gaukelt uns Work-Life-Balance vor, dass man alles unter einen Hut bekommt – um den Preis eines steigenden Leidensdrucks?
Die Lösung könnte ein neuer Begriff sein: Work-Life-Blending. Meint so viel wie Leben und Arbeiten, Privates und Berufliches zu vermischen und das eine im anderen zu tun. Bei jungen Kreativen aus der Start-up-Szene mag das funktionieren. Mütter mit Kindern und Beruf hilft das nicht, beobachtet Felicitas Richter.
Das parallele Erledigen der verschiedensten Dinge – die Waschmaschine füllen, die Mails checken, sich um die Hausaufgaben der Kinder kümmern und mit der Nachbarin plaudern – erzeugt Stress, der durch die dem weiblichen Geschlecht angedichtete besondere Fähigkeit zum Multitasking nicht reduziert wird. Richter: „Multitasking ist der beschönigende Ausdruck für ein Durcheinanderwuseln Ihrer Sinne, Ihrer Aufmerksamkeit und Ihres Tuns.“ Aber weder Frauen noch Männer seien für dauerhaftes Multitasking geschaffen, es führt zu Erschöpfung, wie auch die Neurowissenschaft belegt.
Also was tun? Felicitas Richter hilft betroffenen Frauen, sich zu entscheiden und sich von der Idee, man könne alles unter einen Hut bringen, zu befreien. Ihre Lebensberatung vermittelt unter dem Titel „simple present“ eine Art von Achtsamkeitstraining. In dieselbe Kerbe schlug Claudia Becker in einem Beitrag der „Welt“ zum diesjährigen Muttertag.
Das eigentliche Problem der Mütter sei „nicht das ständige Hin-und-her-Gerase zwischen Kita, Sportplatz, Musikschule und Büro, sondern das Rumgeeiere zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Schuld und Scham. Was Müttern fehlt, ist der Mut, so zu sein, wie sie es für richtig halten – und nicht, wie andere es von ihnen erwarten.“
Das ist freilich eine sehr individuelle Entscheidung, jede Frau und Mutter oder auch jeder familiär eingespannte Mann oder Vater wird das für sich ganz persönlich definieren. Deshalb sind Work-Life-Balance-Programme in Unternehmen kein ausreichender Ansatz. Personalverantwortliche Teilnehmerinnen der Veranstaltung mit Felicitas Richter berichteten aus ihrem Unternehmen: „Seit einem Jahr haben wir Work-Life-Balance als oberste Maßgabe, haben flexible Arbeitszeiten und Home Office eingeführt. Aber wir spüren keinerlei Verbesserung im Arbeitsklima und bei den Problemen unserer Mitarbeiter.“ Felicitas Richter plädiert deshalb für einen Beratungs- und Coaching-Ansatz, der die Autonomie des Einzelnen stärkt.
Ein Programm, das im Übrigen auch den Kindern in den Familien zugutekommen würde. Denn wie Soziologen beobachten, schränken Eltern, die alles richtig machen wollen, die Autonomie ihrer Kinder übermäßig ein. Christine Henry-Huthmacher spricht von der „Paradoxie des autonomen Kindes“: „Auf der einen Seite will man das selbstständige Kind, das seine Bedürfnisse und Interessen selbst artikulieren kann (…), auf der anderen Seite entpflichtet man es von allen Aufgaben.“
Solche Kinder seien „inzwischen regelrecht angewiesen auf Lob und Feedback“ – und erhöhen den Druck auf die Eltern, nur ja alles richtig zu machen. So gesehen wäre Work-Life-Balance mit seinem immanenten Perfektionsanspruch keine Lösung, sondern ein Beitrag zur Neurotisierung des Systems Familie.