Mittelstand: Fachkräftemangel bereitet größere Sorgen als Pandemie
Im deutschen Mittelstand liegen derzeit Freud und Leid nah beieinander. Auf der einen Seite freuen sich Unternehmen etwa aus den Branchen Chemie, Pharma, Maschinenbau und Bauindustrie über eine zum Teil hervorragende Geschäftslage und volle Auftragsbücher. Auf der anderen Seite kämpft der Handel mit den Auswirkungen der Pandemie und staatlichen Einschränkungen, während die Autobranche unter der Halbleiterkrise und Produktionsausfällen leidet und massive Umsatzrückgänge verzeichnet.
20.01.2022
Über alle Branchen hinweg bezeichnen derzeit 52 Prozent ihre Geschäftslage als gut. Die Spanne reicht dabei von 72 Prozent in der chemisch-pharmazeutischen Industrie, 61 Prozent bei Bauunternehmen, 51 Prozent im Maschinenbau bis zu 29 Prozent in der Automobilbranche. Insgesamt nur neun Prozent der befragten Mittelständler bewerten ihre aktuelle Lage als schlecht oder eher schlecht. Einige Unternehmen bezeichnen ihre derzeitige Situation als kritisch: Jedes neunte Unternehmen aus der Metallindustrie und jeder zehnte Händler sieht sich in einer eher oder gar sehr kritischen Verfassung.
Es sind allerdings weniger konjunkturelle Herausforderungen, die die Mittelständler umtreiben, sondern strukturelle Themen: Als große Gefahr für das eigene Unternehmen bezeichnen derzeit 67 Prozent der befragten Unternehmen den Fachkräftemangel – im Vorjahr lag der Anteil noch bei 54 Prozent. Und hohe Rohstoffpreise bereiten 63 Prozent (Vorjahr: 38 Prozent) der Unternehmen Sorgen, während Hackerangriffe aus Sicht von 61 Prozent eine Gefahr darstellen – vor einem Jahr waren 50 Prozent dieser Meinung. Die Pandemie stellt „nur“ für 54 Prozent der Mittelständler eine Gefahr dar, eine schwache Konjunkturentwicklung für 51 Prozent.
Das sind Ergebnisse des Mittelstandsbarometers der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft EY (Ernst & Young). Für die Studie wurden deutschlandweit 800 nicht kapitalmarktorientierte mittelständische Unternehmen mit mindestens zehn Millionen Euro Umsatz befragt. Die Studie wird seit dem Jahr 2004 jährlich durchgeführt.
„Die Geschäftslage im deutschen Mittelstand ist nach zwei Jahren Pandemie immer noch bemerkenswert stabil – die meisten Unternehmen machen gute oder sehr gute Geschäfte, sie haben gelernt, mit der Pandemie umzugehen. Einige erleben sogar eine Sonderkonjunktur und können sich vor Aufträgen kaum retten“, kommentiert Michael Marbler, Partner bei EY, die Befragungsergebnisse. „Allerdings herrscht längst nicht überall eitel Sonnenschein: Der stationäre Handel ächzt unter den Corona-Maßnahmen, die auch das wichtige Weihnachtsgeschäft massiv beeinträchtigt haben. Und die Autobranche leidet unter der Halbleiterkrise.“
Investitionen und Neueinstellungen sollen deutlich steigen
In den kommenden Monaten wollen die Unternehmen ihre Investitionen unterm Strich spürbar erhöhen: Knapp jeder dritte Betrieb will die Investitionen hochfahren, nur fünf Prozent wollen weniger investieren als im Vorjahr. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Neueinstellungen: 34 Prozent planen, die Zahl der Beschäftigten zu erhöhen, nur bei sechs Prozent soll die Zahl der Mitarbeitenden sinken.
„Trotz der Pandemie, die auch 2022 das öffentliche Leben noch maßgeblich bestimmen dürfte, spricht einiges für einen spürbaren Konjunkturaufschwung, denn in vielen Bereichen besteht inzwischen ein enormer Nachholbedarf. Nun wird es allerdings darum gehen, dass dieser Bedarf auch gedeckt werden kann. Die aktuellen Lieferengpässe zeigen, dass dies eine echte Herausforderung ist“, sagt Marbler.
Die hohe Einstellungsbereitschaft aufseiten der Unternehmen dürfte zudem den bereits bestehenden Fachkräftemangel noch weiter verschärfen. Bereits heute beklagen 80 Prozent der Unternehmen, dass es ihnen schwerfalle, neue und ausreichend qualifizierte Mitarbeitende zu finden. Besonders hoch ist der Anteil bei Mittelständlern aus der Elektrotechnikbranche (94 Prozent), der chemisch-pharmazeutischen Industrie (90 Prozent) sowie der Metallerzeugung und -verarbeitung (88 Prozent). Deutlich entspannter ist die Lage im Kfz-Bau (66 Prozent) und im Handel (57 Prozent).
„Auch in Pandemiezeiten hat sich die Lage am Arbeitsmarkt kaum entspannt. Nach wie vor ist es für viele Unternehmen sehr schwierig, qualifizierte Mitarbeitende für sich zu gewinnen und zu halten. Im Zuge des erwarteten Nach-Corona-Booms wird der Bedarf an qualifizierten Mitarbeitenden nochmal stark steigen. Das wissen die Mittelständler und planen langfristig“
Trotz Konjunkturoptimismus: Sorgen nehmen zu
Der Blick auf die eigene Geschäftsentwicklung fällt zwar bei der Mehrheit der Mittelständler positiv aus – das weitere wirtschaftliche Umfeld wird von den Unternehmen aber immer skeptischer betrachtet. So haben nicht nur die Sorgen über den Fachkräftemangel im Vergleich zum Vorjahr nochmals zugenommen (von 54 auf 67 Prozent). Noch starker gestiegen ist die Besorgnis über hohe Rohstoffpreise (von 38 auf 63 Prozent), hohe Energiepreise (von 27 auf 60 Prozent) und die steigende Inflation (von 16 auf 36 Prozent).
„Das derzeitige Umfeld ist für Unternehmen extrem volatil, es ist gerade für kleinere Unternehmen enorm schwierig, alle Risiken im Blick zu behalten und ihnen angemessen zu begegnen – zumal sie vielfach als Teil der Lieferkette auf solvente, handlungs- und lieferfähige Lieferanten angewiesen sind,“ betont Marbler. „Die Pandemie ist noch nicht vorbei, sondern hält immer wieder böse Überraschungen für uns bereit. Da heißt es für die Unternehmen, auf Sicht zu fahren und sich soweit möglich auch auf zunächst unwahrscheinlich erscheinende Negativszenarien vorzubereiten.“
Zur Befragung:
Das EY Mittelstandsbarometer basiert auf einer repräsentativen Befragung von 800 mittelständischen Unternehmen in Deutschland. Befragt wurden nicht kapitalmarktorientierte Unternehmen mit einem Umsatz zwischen zehn Millionen und einer Milliarde Euro. Dafür wurde im November und Dezember 2021 eine telefonische Befragung durch ein unabhängiges Marktforschungsinstitut durchgeführt. Die Unternehmen wurden nach ihrer derzeitigen Geschäftslage, nach den konjunkturellen Aussichten für 2022, nach ihren Investitionsabsichten, der Beschäftigungssituation und Einstellungsplänen sowie den größten Gefahren für das eigene Geschäft befragt.