Der Stuhl ist out
Lange Zeit war er den Herrschenden vorbehalten. Dann wurde er zum Symbol des Büroalltags. Die Rede ist vom Stuhl. Mittlerweile ist er aber manchen eher Ausdruck einer statischen Gesellschaft und mitverantwortlich für Zivilisationskrankheiten. Moderne Arbeits- und Bürokonzepte setzen daher auf Bewegung.
11.01.2019
Wahrscheinlich fing alles mit einem Thron an: einem Symbol, das Herrscher von Untertanen trennt. Bereits in altägyptischer Kunst werden hohe Beamte und Pharaonen auf Hockern und Faltstühlen sitzend dargestellt. Ein Merkmal, das sich noch durch die Geschichte ziehen sollte – schließlich war Sitzhöhe und das Privileg der Rückenlehne selbst im Absolutismus noch Anlass für Ränkespiele beim Hochadel.
Mit der industriellen Revolution wurde der Stuhl auch in Werkstätten und Büros immer wichtiger und verlor seine mystische Aura. Kritik an der Sitzgelegenheit gab es schon früh: „Bequeme Möbel heben mein Denken auf“, soll Goethe gesagt haben, und arbeitete deshalb lieber am Stehtisch. Reichskanzler Otto von Bismarck liebte es noch ein Stück exzentrischer: Er ließ einen Reitsattel auf einem dreibeinigen Hocker montieren, um Sitzgefühl und aufrechte Körperhaltung miteinander zu verbinden.
Das Land der Sitzer und Denker
Rund 18 Millionen Menschen in Deutschland arbeiten täglich an Schreibtischen hat die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (baua) herausgefunden. 80.000 Stunden verbringt der durchschnittliche Büromensch dabei im Laufe seines Arbeitslebens sitzend, und das bis zu 15 Stunden täglich. Auch das Privatleben sieht oft nicht unbedingt aktiver aus. Die Folgen: Rücken- und Nackenschmerzen, verkümmerte Muskulatur und Kreislauferkrankungen. Allerdings kostet Bewegungsmangel viele Dauersitzer nicht nur die Gesundheit, sondern Unternehmen und Volkswirtschaft auch Geld. Nach einem Bericht der Bundesregierung verursachten im Jahr 2005 Skelett- und Muskelerkrankungen rund 23 Prozent aller Krankmeldungen – das entspricht 8,8 Milliarden Euro Produktionsausfall. Das ist natürlich nicht allein den Stühlen und Sesseln zuzuschreiben, aber starres Sitzen ist ein Risikofaktor. Was ist also zu tun, wenn sich das Problem nicht aussitzen lässt?
Schlagpolster im Büroalltag
Ein Lösungsansatz findet sich bei der Firma Interface in Krefeld. Der Hersteller modularer Bodenbeläge hat kürzlich seinen Deutschlandsitz in das denkmalgeschützte Pförtnerhaus des Mies van der Rohe Business Parks verlegt und speziell für die Räumlichkeiten ein Konzept entworfen, das nicht nur mehr Bewegung, sondern allgemein ein gesteigertes Mitarbeiterwohlbefinden verspricht.
Dafür wurde der gesamte Standort nach den Kriterien des „active office“ konzipiert, das die Mitarbeiter während des gesamten Aufenthalts zu mehr Bewegung animieren soll. Möglich wird dies durch höhenverstellbare Schreibtische, Steh-Sitz-Besprechungsbereiche sowie Areale für dynamisches Sitzen, die zum Wechsel zwischen Stehen und Sitzen anregen. Die Mitarbeiter verfügen zudem über keine fest zugeordneten Arbeitsplätze mehr, sondern wechseln zwischen flexiblen Arbeitsbereichen. Je nach anstehender Aufgabe können das kommunikative Gemeinschaftsbereiche, akustisch optimierte Teamarbeitszonen oder auch ein stiller Rückzugsort sein. Papierkörbe und Ablagen sind an zentralen Stellen positioniert, damit die Mitarbeiter sie aktiv aufsuchen müssen. Das schärft als positiven Nebeneffekt das Bewusstsein für Abfallvermeidung. Zusätzlich finden sich über zwei Etagen verteilt Bewegungsobjekte wie Schlagpolster, Turnringe und eine Sprossenwand.
Zusätzlich orientiert sich die Arbeitsumgebung des Pförtnerhauses an den vom Beratungsunternehmen Terrapin Bright Green veröffentlichten „14 Patterns of Biophilic Design“ – ein ganzheitliches Konzept, welches das Verhältnis zwischen Natur, menschlicher Biologie und Gestaltung der gebauten Umwelt in einem Raumdesign wiederzugeben versucht. Konkret bedeutet das zum Beispiel organisch geformte Möbel und Strukturen, die mit ihrem Aussehen das Natürliche in der konstruierten Umgebung betonen. Große Fenster und Glastrennwände stellen eine kontinuierliche visuelle Verbindung mit dem Außenraum her und sorgen zugleich für ausreichend Tageslicht. Auch die Akustik des Standorts wurde optimiert, um Laute hervorzuheben oder Gespräche und Geräusche zu dämpfen.
Für Mensch und Natur
Die Prinzipien von active office und Biophilic Design wollen so gewohnte Bewegungs- und Arbeitsmuster durchbrechen. Das kann verunsichern, schlimmstenfalls frustrieren. Deshalb wurden im Vorfeld des Umzugs in Workshops die Bedürfnisse und Wünsche der Mitarbeiter bei den Themen digitale Archivierung, Health & Wellbeing, Modern Working, nachhaltige Mobilität und Verhaltenskodex ergründet, um sie direkt in die Arbeitsplatzgestaltung einzubinden. Von den Ergebnissen profitieren nicht nur die Angestellten. Beispielsweise führt die digitale Archivierung von Faxen zu einer Reduktion des anfallenden Papiermülls. Die Installation von LEDs anstelle von Leuchtstoffröhren verringert nach Angaben von Interface die Stromkosten über den gesamten Lebenszyklus des Leuchtmittels von 112,86 Euro auf 69,03 Euro pro Quadratmeter. Auch die Nutzung eines Wasseraufbereitungssystems spart Kosten und kommt durch Verzicht auf das Befüllen, Reinigen und Transportieren von angelieferten Wasserflaschen der Umwelt zugute.
Die neue Interface-Zentrale ist eines von zwei Pilotprojekten, auf die das Zertifizierungssystem der Deutschen Gesellschaft für nachhaltiges Bauen (DGNB) für Innenräume angewendet wurde – alle Materialien und Möbel sowie das gesamte Bürokonzept wurden hierfür auf Nachhaltigkeitskriterien analysiert. Der Deutschlandsitz von Interface ist die erste Immobilie, die die höchste Auszeichnungsstufe Platin erhalten hat.