Zeitdiagnose Anthropozän
Unabhängig davon, ob die Erdgeschichtsbücher tatsächlich umgeschrieben werden müssen: Die Idee vom Anthropozän ist in der Welt, und es spricht wenig dafür, dass die Menschheit freiwillig in einen Zustand zurückkehren wird, in dem sie keine dominierende geophysikalische und epochenprägende Kraft mehr auf dem Planeten Erde ist. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Wissenschaft und ihr Verhältnis zur Gesellschaft? Diese Frage wurde bei der Tagung „Lost in the Anthropocene? Nachhaltige Wissenschaft in der Epoche der Menschheit“ diskutiert.
02.12.2014
Die Idee von der Menschheit als einer geologischen Kraft wurde vor mehr als zehn Jahren von dem niederländischen Nobelpreisträger Paul Crutzen geprägt. Noch bis 2016 sammeln Geologen der Internationalen Kommission für Stratigraphie (ICS) Indizien für die Zäsur in der Erdgeschichte. Erst dann wird feststehen, ob wir das Zeitalter des Holozäns verlassen haben und in die „Epoche der Menschheit“ eingetreten sind. Doch unabhängig davon: Die Spuren, die die Menschheit auf der Erde hinterlässt, stellt sie selbst vor immer größere globale Herausforderungen.
„Die Rolle des Wissens und der Wissenschaft muss deshalb mit Blick auf die kommenden Veränderungen überdacht und neu justiert werden. Die Herausforderungen, vor denen wir stehen - als Zivilgesellschaft, aber auch in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft – sind enorm“, sagte ISOE-Wasserforscher Thomas Kluge zum Auftakt der Tagung. An kaum einem anderen natürlichen System lasse sich dies besser zeigen als am Beispiel des weltweit steigenden Grundwasserbedarfs. „Wir betreiben ein riskantes Großexperiment mit einem komplexen Erdsystem, das wir nur unzureichend verstehen“, mahnte Kluge. Die alte Parole der frühen Umweltbewegung „Denke global, handle lokal“ behalte auch im Anthropozän durchaus ihren Sinn, sie müsse jedoch neu ausbuchstabiert werden, da globale Probleme zwar die gesamte Menschheit beträfen – diese sei aber kein Subjekt des Handelns. Um die für die Gesellschaft erforderlichen Kenntnisse zu erzeugen, forderte er zudem eine neue Wissensordnung.
Transdisziplinarität als geeigneter Forschungsmodus der Zukunft
Auch Gastgeber Thomas Jahn, Mitbegründer des ISOE - Institut für sozial-ökologische Forschung und Sprecher der Institutsleitung, griff den Gedanken einer sich verändernden Wissenschaft auf. „Die Idee vom Anthropozän wird die Diskussion um Nachhaltigkeit und auch die Wissenschaft verändern“, sagte Jahn. Er gehe davon aus, dass die Notwendigkeit von Transformationen noch deutlicher erkennbar werde. Ein geeigneter Wissenschaftsmodus sei hierfür die Transdisziplinarität, eine problemorientierte Herangehensweise, die nicht nur Disziplinen überschreitet, sondern neben dem wissenschaftlichen Wissen auch das Praxiswissen gesellschaftlicher Akteure in den Forschungsprozess einbezieht. Diese Herangehensweise werde in Zukunft zum „Referenzrahmen für eine Wissenschaft, die sich mit Fragen nachhaltiger Entwicklungen beschäftigt.“
Die Frage nach der Zukunft der Wissenschaft hatte am Vorabend der Tagung auch Helga Nowotny, frühere Präsidentin des Europäischen Forschungsrates ERC aufgegriffen. In ihrem Festvortrag „Die Welt von Morgen“ im Frankfurter Museum Angewandte Kunst anlässlich des 25-jährigen Bestehens des ISOE zeigte sie sich überzeugt, dass eine disziplinäre Abgrenzung nicht zeitgemäß und nicht hilfreich sei, um Herausforderungen zu begegnen, die ihrer Art nach ja auch nicht disziplinär seien. Nowotny betonte die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Sichtweise, die Komplexität erfassen kann, um die unbeabsichtigten Folgen menschlichen Handelns besser verstehen zu können: „Alle zukünftige Geschichte wird auf dem Verständnis von gesellschaftlichen Naturverhältnissen und auf einer adäquaten Umsetzung in Handeln beruhen, oder es wird sie nicht geben.
Anthropozän 2.0 – gesteuerte Eingriffe in globale ökologische Abläufe?
Dass in den Geowissenschaften keineswegs Einigkeit über die Zeitdiagnose herrscht, machte Heike Egner von der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt in ihrem Vortrag im Rahmen der Tagung deutlich. Für die Humangeographin sei aber auch gar nicht wichtig, ob das Anthropozän offiziell bestätigt werde, sondern „dass die Idee in der Welt ist“. Der reflexhafte Ruf nach technischen Lösungen helfe in dieser Situation nicht weiter, sagte Egner. Angesichts systemischer Risiken und nicht linearer und damit kaum vorhersagbarer Prozesse empfahl Heike Egner den Abschied von Steuerbarkeitsvorstellungen und riet zu „mehr Demut statt technokratischem Aktionismus“. Der gesellschaftliche Umgang mit der natürlichen Umwelt müsse wissenschaftlich stärker ins Blickfeld rücken.
Auch der Atmosphärenwissenschaftler Mark Lawrence lenkte den Blick auf die Frage der Steuerbarkeit. „Anthropozän 1.0“ bedeute für ihn das Ergebnis unbeabsichtigter Folgen menschlichen Handelns. „Aber sind wir nicht schon auf dem Weg in ein Anthropozän 2.0?“ fragte Lawrence. Es gebe schließlich durchaus Wege, beabsichtigt und koordiniert Einfluss auf das Erdsystem zu nehmen – etwa, indem man der Atmosphäre CO2 entziehe. Am Beispiel des Geo-Engineering warf der wissenschaftliche Direktor am Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) in Potsdam aber die Frage auf, wie mit den enormen Unsicherheiten über die Wirkungen dieser Eingriffe umzugehen sei. „Es gibt keine Packungsbeilage nach dem Motto: Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“, sagte Lawrence. Er verwies auf starke ethische Bedenken bei der Idee, weltweit ein geeignetes Klima zu erzeugen und fragte: „Wie weit geht unsere Hybris?“
Begriff Anthropozän: zukunftsweisend, instrumentalisiert oder untauglich?
Als „nahezu unwichtig“ bezeichnete Jochem Marotzke, Grundlagenforscher am Hamburger Max-Planck-Institut für Meteorologie den Begriff „Anthropozän“. Im IPCC-Bericht komme er gerade zweimal vor, und er spiele auch sonst keine Rolle innerhalb der naturwissenschaftlichen Klimaforschung. „Das heißt aber nicht, dass der Einfluss des Menschen auf das Klima unwichtig ist“, betonte er. Marotzke übte deutliche Kritik an der Herkunft des Begriffs. Der Klimaforscher sieht ihn wesentlich geprägt von einer Gruppe von Wissenschaftlern, die die Grenzen der Belastbarkeit der Erde als „planetarische Grenzen“ beschrieben haben. Er fragte, „ob hier nicht einige wenige Wissenschaftler den Begriff unter Verweis auf das Vorsorgeprinzip in Anspruch nehmen und dabei Werturteile für die gesamte Gesellschaft auf der Grundlage nicht belastbarer Fakten treffen – zumindest was den Klimawandel betrifft.“
Auch Harald Welzer, Mitbegründer und Direktor der gemeinnützigen Stiftung FUTURZWEI, zeigte wenig Sympathie für den Begriff „Anthropozän“ und riet dazu, „ihn einzuwickeln und wegzuschmeißen“. Er lenke ab von der gesellschaftspolitischen Tatsache, dass die Folgen der Zerstörung auf die Praxis moderner Produktion und Reproduktion zurückzuführen seien. Weniger „der Mensch“ als „der Kapitalismus“ habe ja mit dem zivilisatorischen Standard zugleich grundlegende Voraussetzungen für die weitere Existenz vernichtet. „Die Bewegungsform des Zerstörungsmechanismus ist nichts Anthropologisches, sondern etwas Wirtschaftliches“, sagte Welzer. Zugleich verwies der Sozialpsychologe auf den Handlungsspielraum für eine andere, praxisorientiertere Wissenschaft. „Das wissenschaftliche Betriebssystem, wie es jetzt läuft, ist nicht Lösung, sondern Teil des Problems, weil es nur Lieferant von Daten und Inhalten ist.“