Umweltkatastrophe in der Oder: Von Erholung keine Spur
Seit über 20 Jahren führt das Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) regelmäßig eine wissenschaftliche Befischung auf der Oder durch. Die Routinebefischung Ende November dieses Jahres war die erste große Bestandsaufnahme der Oder nach der Umweltkatastrophe im Sommer. Das Ergebnis: Insgesamt wurde deutlich weniger Fisch gefangen, für dieses Ökosystem wichtige Arten wie Zope und Rapfen fehlten ganz. Wasseranalysen zeigten zudem, dass die Salzkonzentration nach wie vor deutlich zu hoch ist.
11.01.2023
Am 29. November 2022 befischte das Team um IGB-Wissenschaftler Christian Wolter die Oder von Hohensaaten bis zum Marienhofer Wehr mit einem Forschungsschiff. Diese Befischung in der Strommitte der Oder war die erste große Bestandsaufnahme nach der Umweltkatastrophe im Sommer 2022, bei der es zu einem Massensterben von Fischen, Muscheln und anderen Weichtieren gekommen war.
Dem IGB gelang es bereits im August, hohe Konzentrationen der Brackwasseralge Prymnesium parvum im Fluss zu nachzuweisen. Die Alge kann starke Giftstoffe bilden, was auch in der Oder geschah. Die Ursache war jedoch nicht natürlich, sondern menschengemacht: In der Oder konnte sich die giftige Alge nur aufgrund des hohen Salzgehalts, der hohen Nährstoffkonzentrationen, der niedrigen Wasserführung und der warmen Temperaturen massenhaft entwickeln.
Nicht nur weniger Fische, sondern auch Muscheln und Schnecken stark dezimiert
Bei der Befischung holte das Forschungsteam das große Schleppnetz insgesamt zwölf Mal entlang der 37 Flusskilometer langen Strecke ein. 1.000 Meter zieht der Heckschlepper das Netz bei jedem Durchgang. Die Befischung nach wissenschaftlichen Standards ermöglicht eine Vergleichbarkeit über Jahrzehnte. Die Ergebnisse zeigen ganz klar: Von einer „Erholung" der Oder kann definitiv keine Rede sein. Die menschengemachte Umweltkatastrophe hat die Bestände über alle Arten hinweg drastisch reduziert. Das gilt auch für wichtige Arten wie Zope und Rapfen, die für dieses Fließgewässer-Ökosystem typisch sind. Von ihnen wurde kein einziges Exemplar gefangen — und auch nur sehr wenige Güstern gingen ins Netz.
Insgesamt fingen die Forschenden nur die Hälfte der Fische im Vergleich zum Durchschnitt der Vorjahre. Auch Muscheln und Schnecken, die bei der Befischung gelegentlich im Netz landen, aber nicht routinemäßig erfasst werden, waren dieses Mal kaum vorhanden. „Die Muscheln wurden durch die Oder-Katastrophe um die Hälfte ihrer Biomasse reduziert“, schätzt Christian Wolter. Sie seien die wichtigsten Filtrierer im Ökosystem und auch eine Nahrungsgrundlage für die Fische. „Es wird noch sehr lange dauern, bis die Bestände wieder aufgebaut sind, denn Muscheln sind nicht so mobil, um zügig aus Refugien wieder einzuwandern“, sagt der Ökologe.
Er rät daher dringend: „Es ist jetzt wichtig, alles zu tun, um das Ökosystem Oder zu schützen, damit möglichst viele Tiere überleben. Das bedeutet auch, Lebensräume wieder zu renaturieren und stoffliche Einträge deutlich zu senken.“
Salzgehalte immer noch viel zu hoch, Einleitungen nicht vermindert:
Tatsächlich haben Messungen der Leitfähigkeit während der Befischung gezeigt, dass die Salzgehalte immer noch deutlich zu hoch sind. Am Pegel Frankfurt Oder liegt die Leitfähigkeit seit Mitte November bei über 1.900 Mikrosiemens pro Zentimeter (microS/cm), zum Zeitpunkt der Beprobung am 30. November lag der Wert bei über 2.000 microS/cm und damit über der Messbereichsgrenze. In der Unteren Oder lag sie bei über 1.400 microS/cm. Das ist immer noch hoch, obwohl das Wasser dort durch den Zufluss der Warthe bereits verdünnt ist.
Tobias Goldhammer hat mit seinem Team im IGB-Chemielabor die Wasserproben untersucht. „Unsere chemischen Analysen zeigen ein sehr ähnliches Ionenprofil wie im Sommer. Der Hauptbestandteil der Salzfracht ist weiterhin Natriumchlorid, also übliches Kochsalz. Wir haben in den Wasserproben aus der Unteren Oder etwa 400 Milligramm davon pro Liter Wasser gefunden, das ist in etwa die Hälfte der gesamten Salzmenge in diesen Proben. Wir wissen von den Messstellen auch, dass flussaufwärts noch viel mehr davon im Flusswasser gelöst sein muss. Daraus schließen wir, dass die Einleitungen unvermindert weitergehen“, erklärt der Biogeochemiker.
Konzentrationen statt Frachten festlegen:
Zudem ist der aktuelle Durchfluss mit 130 Kubikmetern pro Sekunde (m³/s) höher als im August 2022, als er nur 85 m³/s betrug. Das Salz wird nun also in einer größeren Wassermenge transportiert. „Das bedeutet, dass die tatsächlichen Salzfrachten jetzt sogar noch größer sind als im Sommer. Es ist daher dringend notwendig, die Einleitgenehmigungen bis April 2023 von ‚Frachten‘ auf ,Konzentrationen‘ umzustellen und einen ökologisch verträglichen Grenzwert auf wissenschaftlicher Basis festzulegen“, betont Christian Wolter. „Gerade weil es sich bei Kochsalz ja um eine für sich ungefährliche Ausgangssubstanz handelt, wäre es vergleichsweise einfach, durch gezieltes Management und Vorverdünnung die effektiven Konzentrationen im Fluss zu reduzieren“, ergänzt Tobias Goldhammer.
Andernfalls bestünde ein hohes Risiko, dass sich die Katastrophe wiederholt – und zwar prinzipiell in jedem Sommer wieder. Im Sediment der Oder sind bereits Dauerstadien der Brackwasseralge Prymnesium parvum nachgewiesen worden. Diese können erwachen, sobald wieder geeignete Lebensbedingungen vorhanden sind. „Das Einzige, was aktuell für eine Massenentwicklung noch fehlt, sind wärmere Temperaturen“, sagt Christian Wolter.
Ausbau der Oder würde Niedrigwasser verstärken – und damit die Voraussetzungen für Algenblüten verbessern:
An den Empfehlungen der IGB-Forschenden hat sich daher seit dem Sommer nichts geändert. Allen voran sollten die flussbaulichen Maßnahmen zur Vertiefung und Verbreiterung der Oder gestoppt werden: „Wenn wir die mittelbaren Ursachen der Oder-Katastrophe betrachten, dann begünstigten Niedrigwasser und höhere Verweilzeiten des Wassers die Massenentwicklung der Alge. Der Ausbau der Oder würde das Einsetzen und die Dauer von Niedrigwasserständen fördern, weil das Wasser, wenn es da ist, im Frühjahr schneller ins Meer fließt. Dieser schnellere Abfluss führt zusätzlich zu noch mehr Tiefenerosion, der Fluss gräbt sich tiefer ein. Die Wasserspiegel in den Auen würden dann bei geringeren Durchflüssen noch weiter absinken und die Landschaft entwässern“, erläutert Christian Wolter.
Renaturierung würde Wasserhaushalt im Fluss und in der Landschaft stabilisieren:
Richtig wäre genau das Gegenteil: Durch die Renaturierung des Hauptlaufs und die Wiederanbindung an Nebengewässer würde das Flussbett durch natürlichen Sedimenttransport wieder angehoben, Auen würden überflutet und damit ihre Rückhaltefunktion gestärkt — und das Wasser in der Landschaft zurückgehalten.
Den Fischbeständen die Möglichkeit zur Erholung geben:
Einige Fische haben Glück gehabt: Der Ostseeschnäpel, der in Deutschland nur in der Oder laicht, befand sich zum Zeitpunkt der Katastrophe in der Ostsee. Nun konnte er im Winter in den Fluss aufsteigen, um sich fortzupflanzen. Das Team von Christian Wolter konnte einige Exemplare nachweisen.
Auch ein paar größere Laichfische von Blei, Hecht und Zander gingen den Forschenden ins Netz, sie hatten vermutlich in den verbliebenen unbelasteten Nebengewässern Zuflucht gefunden. Insgesamt werden die Bestände jedoch noch einige Jahre benötigen, um sich zu erholen – wenn sie die Chance dazu bekommen, d.h. Maßnahmen zur Verbesserung ergriffen werden und sich die Katastrophe nicht wiederholt.