Gemeinsam vom Flatterstrom zur Freiheitsenergie
In der Diskussion um russische Gaslieferungen werden die oft als „Flatterstrom" abgewerteten erneuerbaren Energien nun zur „Freiheitsenergie". Aber wie können Verbraucherinnen und Verbraucher diese zukunftsorientierten Energien nutzen und fördern, ohne gleich eine eigene Solaranlage zu installieren oder spezielle Ökostromverträge abzuschließen?
29.04.2022
Eine Forschergruppe am Umwelt-Campus Birkenfeld der Hochschule Trier präsentiert eine Möglichkeit, den aktuellen Anteil an Freiheitsenergie aus der heimischen Steckdose zu visualisieren und elektrische Verbraucher nur dann zu aktivieren, wenn genügend erneuerbare Energien im bundesdeutschen Strommix vorhanden sind. So können wir als Gemeinschaft schon jetzt dafür sorgen, dass vorhandener klimaneutraler Strom effizient genutzt und die Abhängigkeit von importiertem Gas und Öl sofort reduziert wird.
Im letzten Jahr wurden mehr als 41 Prozent des bundesweiten Strombedarfs durch erneuerbare Energien gedeckt. Ein beachtlicher Anteil, der jedoch noch deutlich höher ausfallen könnte, wäre da nicht das fluktuierende Angebot der grünen Energiequellen. An Sonnentagen und wenn Wind in ausreichender Menge vorhanden ist, kann das Angebot den aktuellen Bedarf aller Privathaushalte und der Industrie heute durchaus schon überschreiten. Dann wird die überschüssige Energie über den länderübergreifenden Verbund ins Ausland exportiert und erzielt dabei auch einmal negative Preise, das heißt, große Verbraucher werden für die Abnahme sogar bezahlt. Nachts oder bei Windstille dagegen müssen fossil betriebene Backup-Kraftwerke den regenerativen Strom ersetzen, weshalb einige Akteure bisher abschätzig von „grünem Flatterstrom" sprechen.
Die Balance dieses Wechselspiels aus Angebot und Nachfrage ist Aufgabe der großen Netzbetreiber. Die dazu nötige Regelenergie stammt zum großen Teil aus schnell reagierenden Gaskraftwerken. Aber spätestens seit dem Kriegsbeginn in der Ukraine fragen sich Millionen Haushalte im Lande: Was kann ich persönlich tun, um die regenerativen Energien besser zu nutzen und den Import von fossilen Energieträgern zu minimieren. Wie können wir uns einbringen, ohne dabei allzu große Komforteinschränkungen zu verzeichnen?
Eine wichtige Antwort darauf ist die dezentrale Eigennutzung von Photovoltaik, sei es in Form einer Solaranlage auf dem Hausdach, oder in Form eines Balkonkraftwerks auf der Terrasse oder Garage. Abgesehen von aktuellen Lieferproblemen sind dazu jedoch größere Investitionen erforderlich. Außerdem hat nicht jeder Platz und Gelegenheit zum Aufstellen der erforderlichen Solarmodule. Was uns darüber hinaus bleibt, ist die Unterstützung der bereits installierten Anlagen durch Abschluss spezieller Ökostromverträge. Hierzu bieten die Energieversorger entsprechende Verträge an und verpflichten sich, den jeweiligen Haushalt mit „grünem" Strom zu beliefern.
Aus dem MINT-Unterricht (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) in der Schule weiß man allerdings, dass der Strom aus der Steckdose auch beim zertifizierten Ökostromtarif physikalisch aus einem Mix von regenerativen und fossilen Energien besteht.
Die Webseite des Umwelt-Campus macht Freiheitsenergie sichtbar
Warum nicht auf den aktuellen Mix schauen und regenerative Energien zeitgenau dann nutzen, wenn sie ausreichend vorhanden sind? Genau das ist seit langem die Idee des „Smart Grid", oder intelligenten Stromnetzes. Nur entsprechende Tarife der Energieversorger, die auf ein wechselndes Stromangebot reagieren und smarte Haushaltsgeräte, die dann automatisch schalten, lassen bisher noch auf sich warten.
Hier möchte die Forschergruppe des Umwelt-Campus Birkenfeld der Hochschule Trier (UCB) ansetzen und bietet auf ihrer Homepage allen Haushalten die Möglichkeit, den aktuellen Anteil der regenerativen Energien aus der heimischen Steckdose live zu beobachten. Denn der erste Schritt zur Autarkie und zum eigenverantwortlichen Handeln in der Gesellschaft ist das Wissen um die aktuelle Situation: https://freiheitsenergie.umwelt-campus.de.
Gleichzeitig bietet die Webseite eine Vorhersage zur Abschätzung der kurzfristigen Entwicklung. Prognostiziert das Modell einen höheren Anteil regenerativer Energie, dann lohnt sich vielleicht das Verschieben der Wäsche oder des geplanten Ladevorgangs, bis bessere Bedingungen herrschen. Hier findet sicher jeder seinen Lieblingsverbraucher, sei es Wäschetrockner, Geschirrspüler oder Elektromobil. Im Falle des Smartphones oder e-Bike sind das nur wenige Wattstunden, die aber in Summe von Millionen Haushalten durchaus helfen können, den aktuellen Bedarf an fossilen Energieträgern signifikant zu reduzieren. „Kaum zu glauben, dass diese Möglichkeiten in der Praxis bisher so wenig genutzt werden" meint Stefan Naumann, Professor für Nachhaltigkeitsinformatik am Umwelt-Campus und Mitentwickler des „Blauen Engels" für Software.
Die IoT2 - Werkstatt macht vorhandene Geräte fit für Freiheitsenergie
Im Zuge einer gemeinwohlorientierten Digitalisierung und dem Engagement in der Gesellschaft geht sogar noch mehr: Grundlage bildet das Internet der Dinge (IoT), die künstliche Intelligenz und ein Open Source-Werkzeugkasten zur Programmierung, den der Umwelt-Campus gemeinsam mit der Expertengruppe IoT im nationalen Digitalgipfel und Makern aus der ganzen Welt entwickelt hat.
„Mit diesem Werkzeugkasten konnten wir in den letzten Monaten viele innovative Ideen realisieren, von der CO2-Ampel im Klassenzimmer, über den Pegelmesser bei Starkregenereignissen, bis jetzt zur intelligenten Steckdose. Alles digitale Ideen Made in Germany, die unsere gesellschaftliche Resilienz stärken, spielerisch einfach umsetzbar sind und uns nebenbei noch schlau machen" sagt Professor Klaus-Uwe Gollmer, einer der Initiatoren der ursprünglich als Bildungsprojekt für Schulen entwickelten IoT2-Werkstatt.
Der Anteil einzelner Energiequellen am bundesdeutschen Strommix wird schon jetzt laufend von der Bundesnetzagentur überwacht und ist über deren Marktdatenschnittstelle verfügbar. Diese Informationen werden am UCB in Echtzeit aufbereitet und stehen neben der Webseite für Menschen nun auch in einer IoT-Cloud für Maschinen und (Haushalts-)Geräte zur freien Verfügung.
Denn in fast jedem Haushalt gibt es heute intelligente, das heißt schaltbare Steckdosen, die einen elektrischen Verbraucher bequem vom Sofa aus steuern lassen (Smart-Home). Hier setzt die IoT2-Werkstatt an: Ein einfacher Algorithmus verknüpft die Informationen über das aktuelle Angebot mit der Steuerung der Steckdosen. Das Ganze funktioniert praktisch wie in einem Kochrezept:
Wenn mehr als 60 Prozent der Energie regenerativ produziert wird, dann lade mein an die Steckdose angeschlossenes e-Bike.
Oder
Wenn weniger als 30 Prozent der Energie regenerativ produziert wird und mein Balkonkraftwerk auch keinen Überschuss liefert, dann schalte die Klimaanlage aus.
So ein Algorithmus wird ähnlich wie beim Puzzle zusammengesteckt und auf einem energieeffizienten Mikrocomputer ausgeführt. Die an der Steckdose angeschlossenen Altgeräte erfahren dabei automatisch einen Retrofit in Sachen Freiheitsenergie und können so noch viele Jahre im intelligenten Energienetz mitspielen. Im Sinne der Nachhaltigkeit ist dies ein weiterer wichtiger Beitrag zur Ressourcenschonung.
Angesichts der starren Tarife der Energieversorger wirkt das Upgrade leider noch nicht direkt im Portemonnaie des Endverbrauchers. Aber jeder Kubikmeter Erdgas, jedes Kilogramm Kohle zählt. Hat die Nachfrage, insbesondere bei angespannten Weltmarkt, doch sehr wohl Auswirkung auf den Preis, der sich dann indirekt über die Kosten der Wohnungsheizung doch im nächsten Winter wieder im Haushalt bezahlt macht.
„Im Falle von größeren Verbrauchern, zum Beispiel bei der Aufladung des Elektroautos oder der Warmwasserbereitung der Wärmepumpenheizung sehen wir sehr viel Potenzial" meint Henrik te Heesen, Professor für Erneuerbare Energien am Umwelt-Campus und Hochschul-Vizepräsident für Forschung.
Nutzen wir die Schwarmintelligenz der Tüftler
Bei den vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten, die sich aus der vorgestellten Lösung ergeben, sind Deutschlands Tüftler gefragt. An vielen Orten entstehen bereits öffentliche Makerspaces und Innovationslabore, die eine fächerübergreifende Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen und Akteure aus allen Teilen der Gesellschaft fördern. Der Umwelt-Campus bietet neben dem Innovationslabor INNODIG Bachelorstudiengänge zur Angewandten Informatik und Künstlichen Intelligenz, zur Umweltinformatik und auch für Erneuerbare Energien. Die intelligente „Freiheitsenergie"-Steckdose ist nur eines der spannenden Themen im breiten Portfolio der angewandten Forschungsprojekte am Campus.
Hintergrund
Der Umwelt-Campus Birkenfeld ist Teil der Hochschule Trier und bündelt Forschung und Lehre zu MINT-Themen mit Fokus auf Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Hier arbeiten Studierende der Informatik und der Ingenieurwissenschaften gemeinsam mit den Lehrenden an der Lösung drängender gesellschaftlicher Fragestellungen. Der Umwelt-Campus belegt im internationalen Wettbewerb GreenMetric Platz 6 von über 900 Hochschulen und Universitäten und ist damit Deutschlands grünster Hochschulstandort. In der Kategorie Energie- und Klimawende ist der Campus sogar weltweit führend.
Die IoT2-Werkstatt ist eine Graswurzelinitiative im Bildungssystem, um das Thema für Schüler*innen und Studierende anfassbar zu machen. 21 Informatik-Profilschulen in Rheinland-Pfalz werden bereits vom Team am Umwelt-Campus betreut.