Textil-Upcycling mit Raumfahrt-Technologie
In Deutschland landen jährlich 100.000 Tonnen Klamotten im Müll. Ein Wissenschaftlerpaar gibt ihnen jetzt neues Leben – als Design-Produkte. Mit Hilfe eines Verfahrens aus der Luft- und Raumfahrt haben die Wissenschaftler ein neues Kunstmaterial geschaffen – aus Naturfasern und alten Klamotten. Ihr erstes Produkt sind Design-Bleistifte.
18.11.2016
Jeder Bleistift trägt die Geschichte des Kleidungsstücks, das ihn ihm steckt. Langfristig wollen die beiden Wissenschaftler mit ihrem social Start-Up manaomea aber noch viel Größeres tun, als Ressourcen zu schonen: die Welt verbinden und soziale Kluften schließen. Um ihre eigene Produktionsanlage zu bauen, haben sie ein ambitioniertes Crowdfunding gestartet. Dafür gibt sogar Smudo von den Fantastischen Vier sein T-Shirt her.
Altkleidermüll statt Holz
Für ihre Bleistifte nutzen Riedel und Arlt weggeschmissene Klamotten oder Textilreste aus Fabriken. In Deutschland werden jährlich 100.000 Tonnen alter Kleidung weggeworfen und verbrannt. Diesem Stoff geben die manaomea-Stifte ein neues Leben. Zu den alten Textilien mischt manaomea Naturfasern wie Jute, Flachs oder Baumwolle. Diese Pflanzen wachsen jährlich nach, bei der Produktion entsteht kaum Abfall. Dazu geben Arlt und Riedel ein Abfallprodukt aus der Zuckerrohr-Produktion als Naturklebstoff. Das Verfahren heißt „Pultrusion“, die Wissenschaftler haben es aus ihrer Arbeit in der Luft- und Raumfahrt abgeleitet. Normalerweise werden damit aus Carbonfasern Teile für Satelliten gefertigt. Aber auch Automobilhersteller nutzen die Technologie für die Herstellung leichter und widerstandsfähiger Autoteile.
Ein Material für die Zukunft unseres Planeten
Die eigentliche Erfindung der beiden ist das Material selbst. Mit ihrem Verfahren können sie eine große Variation an Farben und Formen produzieren – und so eine ganze Reihe an Produkten herstellen, die momentan aus erdölbasiertem Plastik oder aus Holz sind. Möbel aller Art sind denkbar, oder auch Laptop-Cases, um nur zwei Beispiele zu nennen. Das Material ist so stabil wie Massivholz, so leicht wie Carbon und (fast) so formbar wie Plastik. Die Bleistifte sind das erste Produkt von manaomea. Für andere Formen und andere Maßstäbe werden bestimmte Teile der Produktionsanlage umgerüstet.
Neue Formen, neue Haptik – und eine bruchsichere Mine
Ulrich Riedel steht selbst fast jeden Tag an der Produktionsmaschine in Stuttgart. Denn die manaomea-Technologie ist zwar einerseits High-Tech, aber andererseits auch solide Handarbeit. Das merkt man auch den Stiften an. Sie liegen deutlich robuster in der Hand als herkömmliche Bleistifte, haben eine ganz eigene Haptik und schöne Oberflächenmaserung. Ihre Mine ist durch das Pultrusionsverfahren so fest mit dem Mantel verbunden, dass sie absolut bruchsicher ist – rohe Gewalt ausgenommen.
Technologie ist nur die eine Seite
Das Patent für das Material hat Riedel schon seit 2002. Jahrelang blieb es eine ruhende Innovation, die nicht auf den Markt kam. Riedel stieß verschiedene Forschungsprojekte dazu an, versuchte, über Kooperationen mit Unternehmen auf den Markt zu kommen. Erfolglos. Neben aller Materialinnovation fehlte ein Produkt mit dem besonderen etwas. Es fehlte das Herz. Es fehlte Christine Arlt. 2005 lernten die beiden sich am DLR in Braunschweig kennen. Riedel als stellvertretender Abteilungsleiter, Arlt als wissenschaftliche Mitarbeiterin, später stellvertretende Institutsleiterin. Zuerst kam die Liebe, dann die Begeisterung für das gemeinsame Projekt. Arlt: "Da war dieser liebenswerte, geniale Kopf – Uli – mit seinem Material und der Idee für Stifte. Ich habe gemerkt: Die können etwas viel Größeres sein als einfach nur Stifte aus Textilfasern. Dieses Produkt brauchte eine Seele."
Design-Stifte mit persönlicher Geschichte
Zusammen gründeten die beiden die manaomea GmbH, und durch Arlt wurden die Stifte zu Geschichtenerzählern. "Es gibt wenige Dinge, die Menschen so nah an sich tragen und mit denen sie so viele Erinnerungen verbinden, wie mit ihren Klamotten." So kann man sich jetzt Stifte nicht nur aus Textilabfällen, sondern auch aus einzelnen Kleidungsstücken fertigen lassen. Zum Beispiel seinen persönlichen Designer-Stift aus dem eigenen Brautkleid. Oder aus dem alten T-Shirt, in dem man, verschwitzt auf dem Konzert, seinen Partner kennen gelernt hat. Oder aus der Unterhose vom ersten Date.
Geschichten, die größer sind als die eigene Klamotte
Die Geschichten, die Arlt wirklich erzählen möchte, gehen jedoch über nostalgische oder witzige Anekdoten hinaus. Deswegen ist sie das Herz der Unternehmung, Riedel der Kopf. Das Herz möchte, dass die Stifte überall da Gutes tun, wo Menschen mit ihnen in Berührung kommen. Arlt spricht davon, "die Kluft" zu überwinden: Gegensätze in unserer Welt, die sie nicht als gerecht empfindet. "Wir haben durch die Rohstoffe und die verschiedenen Materialien die Chance, mit unseren Produkten wirklich etwas zu bewegen. Die Fasern kommen in der Regel aus Ländern, in denen es vielen Menschen nicht so gut geht. Die Königin zum Beispiel ist aus ugandischer Baumwolle – ökologisch angebaut und fair gehandelt. Ihre Geschichte handelt von ugandischen Baumwollpflückerinnen: Sie macht aus ihnen Könige, indem sie die üblichen Arbeits- und Handelsbedingungen der Textilbranche umdreht, und die Menschen in den Rohstoffländern profitieren lässt."
Die Handelsbedingungen zwischen Industrie- und Rohstoffländern verändern
Denn die Textilbranche hat nicht nur ein Problem mit Überproduktion und riesigen Abfallmengen. Die Kluft, die sich zwischen den Konsumenten der Industrienationen auf der einen, und den Rohstofflieferanten auf der anderen Seite auftut, ist gigantisch. In der Regel kommen Rohstoffe und Arbeitskraft aus ärmeren Ländern, der Gewinn aber wird in den Industrienationen abgeschöpft. H&M und Primark machen die Gesetze. Bei manaomea soll in Zukunft soll nicht nur die Baumwolle, aus Uganda kommen – der Stift soll auch dort gefertigt werden, damit die Wertschöpfung vor Ort entsteht.
Spüren, was in einem Produkt steckt
Wer mit den manaomea-Stiften schreibt, der soll spüren, dass er mit all denen verbunden ist, die den Stift auf seinem Weg begleitet haben. "In jedem Produkt stecken Materialien, steckt menschliche Arbeit, stecken zwischenmenschliche Beziehungen. Die manaomea-Stifte verstecken diese Beziehungen nicht, sie erzählen davon. Sie erzählen davon, dass wir mit einem Stift nicht einfach nur etwas aufschreiben, sondern dass wir den Lauf der Geschichte schreiben – so wie mit jedem Produkt, das wir kaufen und mit jeder Entscheidung, die wir tätigen."
Das Ziel: in Serie gehen.
Bis manaomea gemeinsam mit der ugandischen Landbevölkerung Produkte aus ihrem Material herstellen, muss allerdings noch viel passieren. Denn momentan produziert manaomea zwar seine „Pre-Series“ in einer selbst gebauten Anlage in Stuttgart; die Anlage gehört ihnen aber nicht und steht auf dem Gelände eines kooperierenden Instituts. Riedel: „Um mit einer größeren Auflage in Serie gehen zu können, müssen wir zunächst unsere eigene Anlage hier in Deutschland bauen. Im zweiten Schritt werden wir dann die Technologie nach Uganda bringen.“
Der Weg: eine Crowdfunding-Kampagne mit dem T-Shirt von Smudo.
Um den Bau zu finanzieren, haben Arlt und Riedel auf Startnext eine Crowdfunding-Kampagne gestartet. Neben den ersten beiden manaomea-Stiften, der Königin und dem Noblen, können Unterstützer sich Kollektionen aus eigenen Kleidungsstücken fertigen lassen. Die Kombination aus Witz und Sinn findet offenbar Anklang, denn für das Crowdfunding konnte manaomea schon namhafte Unterstützung gewinnen: Smudo von Fanta4 lässt T-Shirts zu Stiften machen, genauso Konstantin Wecker. Skibundestrainer Charly Waibel spendet einen seiner alten Skianzüge.
Von der Crowdfunding-Kampagne hängt ab, wie es mit manaomea weitergeht. Ist sie erfolgreich, werden die Produkte aus alten Klamotten noch viele Geschichten erzählen. Wenn nicht, darüber wollen die beiden erst mal nicht nachdenken. Und das ist der zweite Punkt, mit dem Arlt und Riedel so richtig angekommen sind im Leben als Erfinder: Der Erfolg hängt an der seidenen Faser.