Es kommt Leben in die Hütte
Das ist der Moment, vor dem sich jeder Hausbesitzer fürchtet: Schimmel in den eigenen vier Wänden. Mikroorganismen wie Pilze und Bakterienkulturen haben beim Wohnungsbau oder gar im Haushalt nichts zu suchen, gelten als Zeichen mangelnder Hygiene. Bis jetzt. Unser Bild der winzigen Lebewesen könnte sich in den nächsten Jahren radikal verändern.
14.08.2018
Für viele Menschen ist Keimfreiheit ein Synonym für Gesundheit und Sauberkeit. Dabei sind bei Weitem nicht alle Mikroorganismen gesundheitsschädlich, viele sogar überlebenswichtig. Obwohl Forscher schon seit über 300 Jahren Bakterien beschreiben und katalogisieren, sind wahrscheinlich nicht einmal 95 Prozent aller existierenden Arten bekannt. Kreative in Kunst und Architektur haben jetzt das Potenzial der verrufenen Lebewesen erkannt.
Dabei ist die Verbindung von Natur und Architektur gar nicht neu. Bereits nach dem ersten Weltkrieg strebten progressive Architekten wie Hugo Häring oder Hans Scharoun nach Harmonie zwischen Gebäude und Natur. Für ihre Bauten verwendeten sie größtenteils natürliche Baumaterialien. Die hier vorgestellten Projekte stehen damit im Geiste dieser organischen Architektur und führen das Konzept konsequent fort.
Abfall als wertvoller Rohstoff
Warum nicht den Gasherd und die Heizung mit Abfall betreiben? Was auf den ersten Blick abwegig scheint, ist das erklärte Ziel von Philips Design. Mit dem „Microbial Home“ stellen die Designer ein visionäres, geschlossenes Wohnkonzept vor. Bakterien zersetzen hier Abfälle zu Biogas. Das modular aufgebaute System nutzt dieses anschließend als Energiequelle. Der Begriff „Müll“ verliert seine Bedeutung, wenn Abfall als Rohstoff begriffen wird: Es ist die Vision der vollendeten Kreislaufwirtschaft in den eigenen vier Wänden.
Mit dem „Paternoster“ als integriertes Modul ist das System nicht nur auf biologischen Abfall beschränkt. Die Upcycling-Maschine soll Kunststoffabfälle mithilfe von Enzymen zersetzen. Als Produkt entstehen essbare Pilze.
Ebenfalls in das System integriert sind ein urbaner Bienenstock, leuchtende Bakterien in den Lampen und Wasserfilter in den Sanitäranlagen. Selbst Exkremente könnten so nach den Vorstellungen der Designer als Nähr- und Rohstoff für die Bakterien dienen.
Gezüchtete Häuser aus genmanipulierten Bäumen
Eine ähnliche, aber noch radikalere Idee verfolgt Mitchell Joachim. Der promovierte Architekt forscht seit Jahren an nachhaltiger Architektur und entwickelte die Vision des „Fab Tree Hab“: Aus gentechnisch veränderten Bäumen sollen „gezüchtete“ Häuser entstehen, die in einer symbiotischen Beziehung zu ihrer Umwelt stehen. Dabei produziert ein Fab Tree Hab während seines gesamten Lebenszyklus Nahrung für seine Bewohner. Auch hier entsteht kein Abfall oder Abwasser im klassischen Sinne, alles findet im geschlossenen Kreislauf zwischen Ökosystem und Haus seine (Wieder-)Verwendung.
Das klingt stark nach Science-Fiction. Joachim selbst scheut diesen Vergleich aber nicht. Gegenüber dem Zukunftsinstitut sagte er: „Die Ideen, die wir vorbringen, basieren auf bereits serienmäßig existierenden Technologien. Wir ändern nur die Lösungsgrundlage und tun Dinge, die nicht immer offensichtlich sind. Wir haben kein Problem damit, über Science-Fiction nachzudenken – wir begrüßen es sogar.“ Noch sind allerdings nicht alle für das Projekt benötigten Technologien ausgereift. Beispielsweise fehlen organische Fenster. Deshalb wird es wohl noch eine Weile dauern, bis der visionäre Architekt dem ersten Fab Tree Hab den Lebensfunken einhauchen kann.
Kreativ mit Pilzen
Bodenständiger geht es in den Werkräumen des Künstlers Philipp Ross zu. Der ehemalige Küchenchef hat während seiner Arbeit am Herd die Liebe zu Speisepilzen entdeckt und nutzt sie jetzt als Rohstoff für Möbelstücke und Skulpturen. Der Vorteil: Im Gegensatz zu Baumaterialien wie Beton bleiben Pilze über einen längeren Zeitraum formbar, sind hitze- und lichtempfindlich.
Die jahrelange Arbeit mit dem exotischen Material hat allerdings auch den gebürtigen New Yorker zu visionärem Denken beflügelt: In seinem Projekt „Mycotecture“ soll ein komplettes Gebäude aus Speisepilzen gezüchtet und errichtet werden. „Wir können jetzt schon in zwei Wochen eine Menge an Lederersatzstoff aus Pilzen züchten, für die man in der Massentierhaltung zwei Jahre bräuchte. Und dabei benötigen Pilze nur Abfall als Nährstoff. Sie sind der Rohstoff der Zukunft“, sagt Ross in einem Video auf seiner Internetseite.
Das Algen-Kraftwerk
Geht es nach den Vorstellungen des Designers Mike Thompson, werden Algen zukünftig als Energiequelle dienen. Der Engländer entwickelte das Konzept der „Latro Algen Lampe“: In einer Hängelampe befindliche Algen betreiben Fotosynthese und produzieren Strom, der in einer Batterie gespeichert wird. Das benötigte CO2 stammt dabei aus der Atemluft, die über ein Mundstück zugeführt wird.
Vorerst bleibt das Algen-Kraftwerk aber ebenfalls noch Zukunftsmusik. Das schreckt die Pioniere des organischen Designs aber nicht davor ab, ihre futuristischen Ideen zu verfolgen. Schließlich hat Hermann Hesse einmal bemerkt: „Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen.“