„Können wir uns eine totale Abhängigkeit von digitalen Systemen leisten?“
Welche Weichen müssen wir stellen, um zukünftigen Herausforderungen frühzeitig zu begegnen? Um das zu klären, sammelt der Zukunftskreis des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der Strategischen Vorausschau Orientierungswissen über mögliche zukünftige gesellschaftliche und technologische Entwicklungen. Prof. Dr. Armin Grunwald, Vorsitzender des Zukunftskreises, beschäftigt sich unter anderem mit der Zukunft der Arbeit. Teil vier unserer Interview-Reihe.
30.04.2021
Herr Prof. Dr. Armin Grunwald, was zeichnet die Arbeit des Zukunftskreises, den Sie als Vorsitzender leiten, aus?
Prof. Dr. Armin Grunwald: Experten für die Zukunft gibt es eigentlich nicht, denn sie brauchen Daten und die gibt es aus der Zukunft nun mal nicht. Aber natürlich machen sich verschiedene Menschen in unterschiedlichen Bereichen auf Basis bestehender Daten und heutiger Einschätzungen jeweils kluge Ge-danken über die Zukunft. Das Schöne am Zukunftskreis ist, dass wir sehr bunt zusammengesetzt sind, aus Wissenschaft, aus den Stabsabteilungen von Unternehmen, kleinen Start-ups, aber auch aus Kunst und Kultur. Hier wird also sehr unterschiedlich mit Blick auf Zukunft – oder, wie ich gerne sage auf „Zukünfte“ – gedacht, sodass uns das ein weites Spektrum an Möglichkeiten an die Hand gibt, möglichst umfassend zu diskutieren und zu beraten.
Es geht darum, Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern etwas an die Hand zu geben, sodass sich Forschungspolitik an guten Ideen über die Zukunft ausrichten kann. Deswegen braucht es auch eine weitere Perspektive als normalerweise. Wir nehmen beispielsweise heute die 2030er-Jahre in den Blick. Es geht um Orientierung für die Forschungspolitik des Bundes, deswegen ist das etwas weiter in die Zukunft schauend angelegt.
Welche positiven Aspekte kann der Wandel der Arbeitswelten, über den Sie als einen der Megatrends auch im Zukunftskreis diskutieren, für eine Gesellschaft bedeuten, die Veränderungen von Erwerbsbiografien größtenteils immer noch mit Argwohn begegnet?
Grunwald: Wandel muss man schon heute und in Zukunft gestalten, damit Menschen, denen ihre ursprüngliche Berufsbiografie veloren geht, andere Chancen bekommen. Da sind wir heute viel besser aufgestellt als noch in den 1980er-Jahren, als Industrierobotik auf einmal massenweise Jobs vernichtete. Argwohn ist einerseits nicht unberechtigt, aber man muss und kann frühzeitig gestaltend eingreifen, damit neue Chancen entstehen.
Dass wir heute in westlichen Ländern unsere Selbstverwirklichung so stark in Terminologien von Erwerbsarbeit denken, hat sich, jedenfalls bezogen auf Arbeitnehmerinnen, erst in den letzten Jahrzehnten entwickelt. Heute bestimmt Erwerbsarbeit für nahezu alle Menschen sehr stark den Sinn ihres Lebens: „Wo ist meine Position in der Gesellschaft, wo stehe ich?“ Das ist eine einseitige Entwicklung. Andere Tätigkeiten, die früher sinnstiftend waren, haben an Bedeutung verloren. Ich denke, da ist die Entwicklung sehr stark in eine Richtung gegangen – wenn es um Emanzipation und Gleichberechtigung geht, mit vollem Recht! Aber es gilt zu fragen, ob es nicht andere Formen des gesellschaftlichen Engagements gibt, die genauso Anerkennung verdient hätten. Das geht aber erst, wenn Teile der Erwerbsarbeit von der Maschinenwelt übernommen werden, die uns Menschen mehr Zeit geben, uns anderen Dingen zu widmen und die andere Wertschöpfungsformen mit sich bringen würden, Es bräuchte andere fiskalische Modele und neue Formen der Finanzierung des öffentlichen Sektors. Wenn man Automatisierung so versteht, birgt das einfach viele Chancen, freier zu werden.
Welche Art von Technologiewissen muss schon in der Ausbildung vermittelt werden, um den Anforderungen neuer Arbeitswelten zu begegnen?
Grunwald: Die Frage setzt voraus, dass es zukünftige Arbeitswelten gibt, die heute schon bekannt sind und denen man sich bereits optimal anpassen kann. Ich würde zunächst lieber fragen, wie diese aussehen sollen. Wie stellen wir uns zukünftige Arbeitswelten basierend auf einer neuen Kooperation zwischen Mensch, Technik und KI vor? Dazu gehört nicht nur das Arbeitsvolumen, auch die Qualität – zum Beispiel von Arbeitsverhältnissen. Sicher wird der traditionelle Arbeitsvertrag weiter an Bedeutung verlieren. Gerade deshalb braucht es andere Formen von Solidarität, damit das System für jemanden, der mal Schwäche zeigt, nicht sofort im sozialdarwinistischen „The winner takes it all“ endet. Darüber hinaus wünsche ich mir bei möglichst vielen Menschen ein noch stärkeres Bewusstsein dafür, dass der Einfluss des Digitalen keine naturgegebene, schicksalshafte Macht ist, die über uns hereinbricht, sondern, dass die Digitalisierung auch von Menschen gemacht wird. Am Ende der Kette zu sitzen und als einzige Gestaltungsmöglichkeit die Anerkennung der AGB zu haben, ist mir zu wenig!
Wenn Algorithmen nicht nur in der Produktion Anwendung finden, sondern zunehmend bei Entscheidungen von Unternehmensleitungen, zum Beispiel im HR-Bereich, welche Chancen und Herausforderungen gibt es dann?
Grunwald: Neben den bekannten Überwachungsszenarien, denen man vorbeugen muss, sehe ich auch Chancen einer Effizienzsteigerung. Es kommt vor allem darauf an, wie die Algorithmen programmiert sind. Wenn man nicht aufpasst, diskriminieren sie, wenn man sehr sorgfältig ist, bieten sie hingegen Chancen, uns Menschen zu korrigieren, da auch wir ja diskriminieren. Was ich als Gefahr sehe, über die wenig gesprochen wird: Bewerbungsunterlagen oder andere Dokumente, die ein Algorithmus zur Verfügung hat, sind der Natur der Sache nach Daten aus der Vergangenheit. Eine Bewerberin oder einen Bewerber auf Basis solcher Daten zu bewerten, um zu schauen, ob in der Zukunft gute Leistungen zu erwarten sind, ist einerseits verständlich, aber bei persönlichen Gesprächen gibt es, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, immer wieder das Erlebnis, dass die Daten aus der Vergangenheit korrigiert werden. Man merkt „Das ist ein Mensch mit einem Potenzial an Kreativität, das er oder sie bislang nicht ausleben konnte, weil noch gar nicht die Chance bestand, aber ich traue dieser Person etwas zu“. Mein Punkt ist: Wir Menschen können gegen die Daten denken, uns Bewerbungen anschauen und über eine Person dann sagen: „Ja, die kann viel mehr als in den Daten steht.“ Algorithmen hingegen sind auf Daten aus der Vergangenheit angewiesen. Menschen aber können manchmal sagen: „Nein, das kann nicht alles sein.“
Auf welche rechtlichen, aber vor allem auch ethischen Fragen müssen wir in Zukunft mit Blick auf die Integration von Robotik-Systemen in unseren Arbeitsalltag Antworten finden?
Grunwald: Bei allen autonomen Technologien, ob Roboter im Betrieb oder Autonome Autos, geht es um Verantwortlichkeit. Ich glaube, dass man Haftungsfragen lösen kann, man sie aber auch lösen muss. Zumindest auf absehbare Zeit werden wir nämlich kaum bereit sein, einen Roboter vor Gericht zu stellen oder einen Algorithmus ins Gefängnis zu sperren. Hinzu kommt die Frage der Anpassung. Mensch-Maschine-Kommunikation muss in beide Richtungen so gelingen, dass sie nicht missverstanden wird. Wenn ich dem Roboter etwas sage, muss er das auch so verstehen und mich nicht übern Haufen rennen. Wenn umgekehrt der Roboter eine Frage hat, muss er die so formulieren können, dass ich antworten kann. Die Sprachwelten von Maschine und Mensch zusammenzubringen ist eine große Herausforderung. Was den ethischen Aspekt betrifft: Eigentlich möchte ich nicht, dass Menschen sich den Maschinen einfach anpassen müssen, also, dass wir die Robotersprache lernen wie eine Fremdsprache. Ich würde mir wünschen, dass der Roboter menschliche Sprache lernt, damit die Verständigung funktioniert.
Welche grundsätzlichen Entwicklungen dürften für uns als Gesellschaft in Zukunft wichtiger, welche weniger wichtig werden?
Grunwald: Sehr weitgehenden Konsens haben wir ja bereits heute dahingehend, dass die Klimawandeldebatte nicht unwichtiger wird. Ich glaube, was wichtiger wird, ist die Frage, ob wir uns eine totale Abhängigkeit von digitalen Systemen leisten können. Wenn das Internet während eines Blackouts oder Hackerangriffs zusammenbräche, hätte das massive ökonomische Auswirkungen. Diese totale Abhängigkeit, die steigern wir ja noch. Wenn darüber gesprochen wird, Bargeld abzuschaffen, setzt das voraus, dass Stromversorgung und Internet stets reibungslos funktionieren, das nenne ich totale Abhängigkeit. Wohin das führt, haben wir ja zum Teil während der Pandemie erlebt. Ich glaube, erstens, dass wir uns diese Abhängigkeit viel stärker bewusst machen müssen und zweitens auch einen Plan B für alle Fälle benötigen.
Über Prof. Dr. Armin Grunwald:
Prof. Dr. Armin Grunwald ist Vorsitzender des Zukunftskreises des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und Leiter des Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Seit 2007 ist er außerdem Inhaber des Lehrstuhls für Technikphilosophie und Technikethik am KIT und seit 2002 leitet Grundwald das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag. Seine Arbeit- und Forschungsschwerpunkte sind Theorie der Technikfolgenabschätzung, Ethik der Technik sowie Theorie und Praxis nachhaltiger Entwicklungen.
Über die „Strategische Vorausschau“:
Die Strategische Vorausschau ist für das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ein wichtiges Instrument, um frühzeitig Orientierungswissen über mögliche zukünftige gesellschaftliche und technologische Entwicklungen zu bekommen. Ziel ist es, die richtigen Weichen zu stellen, um künftigen Herausforderungen frühzeitig zu begegnen. Hierfür wurde der sogenannte Zukunftskreis berufen: 16 Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Disziplinen beraten das BMBF hinsichtlich Zukunftstrends. Aber auch den Bürgerinnen und Bürgern bieten die Ergebnisse der Vorausschau eine gute Orientierung für die Zukunft. Mehr Informationen finden Sie hier.