"Viele glauben, Industrie 4.0 kann man kaufen"
Die Zukunft in der Produktion heißt Industrie 4.0. Wer sich ihr verschließt, gilt als rückständig. Doch was ist Industrie 4.0 eigentlich? Prof. Birgit Vogel-Heuser vom Lehrstuhl für Automatisierung und Informationssysteme an der Technischen Universität München (TUM) erklärt, warum eine Definition so schwierig ist und wie Unternehmen die neue industrielle Revolution umsetzen können.
26.01.2017
Interviewer: Alle reden von Industrie 4.0, aber viele Menschen können sich nichts Genaues darunter vorstellen. Gibt es eine Definition?
Vogel-Heuser: Ja, es gibt Definitionen. Aber keine, die wirklich anerkannt ist. Oder aber die Definitionen sind so allgemein gehalten, dass sie nichts mehr aussagen. Eigentlich ist Industrie 4.0 ein Konzept, das viele Facetten hat. Das in einem Satz zusammenzufassen, funktioniert einfach nicht.
Was sind die häufigsten Missverständnisse, wenn es um Industrie 4.0 geht?
Viele Menschen denken, dass sie Industrie 4.0 kaufen können. Das ist nicht möglich. Oder Messe-Stände werben mit der Aufschrift: Wir haben einen Industrie 4.0-PC. Völliger Unsinn. Ein PC an sich kann gar nicht Industrie 4.0 sein, das ist ein Gerät mit einer Software. Oft höre ich bei Schulungen auch: Sagen Sie mir mal, wie Industrie 4.0 für mein Unternehmen funktioniert. Das geht nicht. Jedes Unternehmen muss für sich überlegen, was von diesem Blumenstrauß an Komponenten von Industrie 4.0 für sie, für ihr Geschäft und für ihre Kunden interessant ist.
Können Sie dafür Beispiele nennen?
Ich hatte bei einer Schulung Kontakt zu einem Unternehmen, in dem noch viel manuell gearbeitet wird. Aber es gibt eine große Kernmaschine, die öfter ausfällt. Jetzt hat sich das Unternehmen mit dem Mitbewerber zusammengetan, der auch diese Maschine hat und ein Industrie-4.0-Projekt mit dem Maschinenhersteller gestartet, um die Ausfälle zu reduzieren und die Ursachen zu finden. In einem anderen Fall, bei einer großen Firma, die viele Abteilungen hat, muss zum Beispiel die Kommunikation zwischen den Abteilungen optimiert werden, damit das Engineering und die Datenauswertung verbessert werden können. Daher kann man nicht sagen: Erklär mir, was ich in meinem Unternehmen machen soll. Hier muss jeder selbst überlegen, wo Schwächen vorhanden sind und was am meisten Nutzen bringt.
Industrie 4.0 optimiert also die Unternehmen?
Ja, es ist ein Optimierung-Prozess. Wir wollen ja im Endeffekt, dass unsere Anlagen besser laufen, damit wir wettbewerbsfähig bleiben oder sogar unsere Wettbewerbsfähigkeit verbessern können. Dazu haben wir diese verschiedenen Mechanismen von Industrie 4.0. Zum Beispiel kann ich mich jetzt vernetzten, weil fast überall ein gutes Internet vorhanden ist. Diese Vernetzung kann aber nicht nur im eigenen Unternehmen, sondern auch mit dem Mitbewerber stattfinden. Viele Unternehmen sind durchaus bereit, ihre Daten auch mit einem Teil der Mitbewerber ein Stück weit zu teilen. Weil sie so mehr Wissen bekommen, und mehr Wissen heißt, ich kann produktiver arbeiten.
Wie kann das konkret aussehen?
Zum Beispiel können Hersteller und der Baustellenbetreiber miteinander Daten über Baumaschinen austauschen, also wie oft das Gerät im Einsatz ist oder welche Strecken gefahren werden oder welche Fehlermeldungen anstanden. Wenn ich sehe, ein Gerät fällt aus, kann ich schnell erfahren, wo ich ein anderes herbekommen oder leihen kann. Und vielleicht eben auch beim Mitbewerber, wenn ich weiß, der braucht gerade seinen Bagger nicht. Und ich gebe ihm noch ein wenig Geld dafür. Dann haben wir beide was davon. Das ist das wirklich Neue, über Betriebsgrenzen hinaus zu schauen.
Bei dem Projekt „MyJogurt“ arbeiten Sie mit mehreren Professoren an einem Projekt.
Auch Professoren sind Mitbewerber, wenn sie an verschiedenen Universitäten forschen und lehren. Wir wollten zeigen, dass wir gemeinschaftlich etwas aufbauen und auch gemeinschaftlich lernen können und das auch ohne Förderung. Jeder hat seine Stärke und wenn wir uns zusammentun, dann entsteht daraus ein Industrie 4.0 System. Und so war es auch, wir haben gemeinschaftlich Modelle und Software geschrieben.
In dieser Anlage ist ein anderer Aspekt von Industrie 4.0 zu sehen: Das intelligente Produkt. Wie funktioniert das?
Sie haben sozusagen ein Joghurt-Gläschen, das weiß, wie es befüllt werden will. Sagen wir, Sie wollen Mango und Erdbeeren. Zuerst müssen Sie wissen: Kann das gefertigt werden, also sind alle Zutaten vorhanden und kann diese Frucht überhaupt in der Anlage verarbeitet werden. Dann werden die Gläschen gefahren und holen sich, was sie brauchen. Sie sind sozusagen in Kontakt mit der Anlage. Die Idee an sich ist schon ziemlich alt. Nun ist es umsetzbar.
Bei dem Begriff Industrie 4.0 denken viele Menschen auch an eine voll automatische Produktion, bei der Arbeitskräfte nicht mehr nötig sind …
Menschenleere Fabriken sind nicht das, was wir erreichen wollen. Es gibt bestimmte Dinge, die können Maschinen besser als Menschen. Zum Beispiel schwere Dinge zu heben oder monotone Tätigkeiten wie Daten auswerten. Diese anspruchslosen zeitraubenden Tätigkeiten wollen wir wegbekommen. Diese vielen kleinen Dingen, die uns davon abhalten, das zu tun, was wir eigentlich wollen. Dazu kann Industrie 4.0 beitragen. Andere Dinge können Menschen immer noch besser als Maschinen, wie etwa auf kritische und unvorhergesehene Situationen zu reagieren. Auch sollen Menschen in Industrie 4.0 in der Arbeit durch Maschinen unterstützt werden.
Wie könnte das aussehen?
Die Frage ist: Wie kann ich auch geringer qualifizierte Arbeitskräfte ertüchtigen, dass sie zum Beispiel eine Maschine warten können. Wichtig ist, die komplexen Arbeiten in einfache Schritte herunterzubrechen und die Menschen dabei nicht zu überfordern. Es ist möglich, deren Reaktionen zu interpretieren. Etwa durch eine Brille, die die Blickrichtung feststellt. Wenn jemand herumschaut und nicht weiterweiß, kann man dies feststellen und versuchen herauszufinden was er nicht verstanden hat. Mithilfe dieser Informationen kann man die Schnittstelle und die Software dann neu programmieren und verbessern.