Ganz schön smart: schnelles Internet aus dem All
Eine leistungsfähige und verfügbare Breitbandversorgung ist die Voraussetzung, um in der Digitalisierung bestehen zu können. Noch immer hat aber fast die Hälfte der Weltbevölkerung keinen Zugang zu schnellem Internet. Wie lässt sich das ändern? Die Lösung könnte im nahen Weltraum liegen.
07.05.2020
Im Jahr 2030 sollen 125 Milliarden Geräte auf der Welt mit dem Internet verbunden sein – und damit fast 100 Milliarden mehr als noch 2017. Das schätzt das European Strategy and Policy Analysis System. Dies erfordert zuverlässige, leistungsfähige Internetverbindungen.
Wie abhängig Wirtschaft und Gesellschaft vom Internet sind, ist derzeit selbst in Mitteleuropa offenkundig. Weil während der Coronavirus-Pandemie viel mehr online kommuniziert und gearbeitet wird, schwächeln die Verbindungen nicht nur in abgelegenen Regionen bisweilen erheblich. Deutlicher als jemals zuvor zeige sich, wie mit einer leistungsfähigen Breitbandinfrastruktur ganze Gesellschaften und Wirtschaftssysteme funktionsfähig gehalten und besonders gefährdete Personengruppen unterstützt werden könnten, betont die „Broadband Commission for Sustainable Development“, ein Gremium der International Telecommunication Union (ITU).
3,7 Milliarden Menschen sind offline
Der Zugang zu schnellem Internet ist allerdings ungleich verteilt. In ärmeren Regionen der Welt wie Subsahara-Afrika ist die Bevölkerung davon oft abgeschnitten. Laut ITU-Breitbandbericht 2019 waren im Jahr 2018 nur 55 Prozent der Weltbevölkerung mit mobilen Internetzugängen versorgt, besonders schlecht in ländlichen Regionen. Auf 3,7 Milliarden wird die absolute Zahl der Menschen ohne Internetzugriff beziffert.
Dabei ist schnelles mobiles Internet unverzichtbar, um viele der UN-Nachhaltigkeitsziele zu erreichen – sei es eine widerstandsfähige industrielle Infrastruktur oder eine moderne Bildungslandschaft. Spätestens für die Nach-Krisenzeit müsse deshalb dafür gesorgt werden, dass leistungsfähige Breitbandnetze für alle zu erschwinglichen Preisen sicher benutzbar zur Verfügung stünden, fordert die Broadband Commission.
Smarte Antennen kommunizieren mit Tausenden Satelliten
Wie aber lässt sich Breitband-Internet schnell großflächig in abgelegene ländliche Gebiete bringen? Herkömmliche Mobilfunk-Sendemasten scheiden als Lösung wohl aus. Der Unternehmensbereich Performance Materials des Wissenschafts- und Technologieunternehmens Merck sieht in der hauseigenen Entwicklung von Flüssigkristallmischungen für intelligente Antennen dafür die genau richtige Lösung. Mit Phased-Array-Antennen auf Flüssigkristallbasis könne gerade in ärmeren Ländern eine kostengünstige, zuverlässige und ressourcenschonende Anbindung an das mobile Breitband-Internet aufgebaut werden.
Mercks Flüssigkristalle ermöglichen smarte Antennen, die das Satelliten-Internet-Netz in der niedrigen Erdumlaufbahn (Low Earth Orbit, LEO) nutzen. LEO-Satelliten umkreisen den Globus in Höhen zwischen 160 und 1.000 Kilometern in circa 90 Minuten pro Runde. Diese Orbiter sind flexibler steuerbar und bieten eine bessere Signalstärke als geostationäre Satelliten, erklärt die Europäische Raumfahrtagentur ESA. Bereits seit 1998 hat Iridium knapp 2.000 Raumflugkörper im Nah-Orbit und bietet damit Satellitentelefonie an. Nun planen laut Bloomberg Business Week auch Unternehmen wie SpaceX und Amazon den Aufbau eigener LEO-Telekommunikationsnetze. Allein Amazon will demnach mehr als 3.200 Satelliten ins All schießen.
Herkömmliche Satelliten-Empfänger sind für das LEO-Netz nicht optimal. Sie sind zu groß und unhandlich. Sie könnten auch nicht schnell genug automatisch auf den besten Satellitenempfang ausgerichtet werden. Die Flächenantennen mit Flüssigkristallen von Merck werden hingegen elektronisch gesteuert und folgen der Position der LEO-Satelliten automatisch. Weil sie auf mechanische Teile und energiehungrige Komponenten verzichten, verbrauchen sie wenig Strom und können sogar mit Solarenergie betrieben werden – das alles bei einer laut Merck ausgezeichneten Übertragungsgeschwindigkeit.
Produktion auf bestehenden Display-Anlagen
Merck ist bereits seit über 50 Jahren Flüssigkristallspezialist. 1969 präsentierten die Darmstädter die Flüssigkristalllösung „licristal“, die zur Herstellung erster Displays genutzt wurde. In der Folge entwickelte Merck noch hunderte von Flüssigkristallmaterialien für immer anspruchsvollere Displaylösungen wie etwa Touch-Bildschirme. Die neuesten Entwicklungen sind LC-Materialien für „intelligente“ Fenster und nun die Chemie, die in smarten Antennen auf Flüssigkristallbasis steckt.
Als wesentliche Vorteile der neuartigen Antennen stellt Merck den geringen Stromverbrauch, die Größe und die flache Form heraus. Auch die Herstellungskosten seien niedrig, weil die Antennen auf bestehenden Display-Produktionsanlagen mit produziert werden können. Die Systeme können in verschiedenen Oberflächen integriert werden, beispielsweise in Autodächern. Die Empfangsleistung wird über spezielle Flüssigkristalle gesteuert, die sich zwischen zwei Glasscheiben befinden. Je nachdem wie die Spannung angelegt wird, richten sie sich unterschiedlich aus. Auf diese Weise können die Signale immer optimal elektronisch fokussiert werden.
Dieter Schroth, Leiter des Smart-Antenna-Geschäfts bei Merck, sieht enormes Potenzial in den intelligenten Flachantennen als Komponenten von LEO-Breitbandnetzen. Damit ließen sich Weltregionen, die bislang von der Digitalisierung abgeschnitten sind, mit der Basistechnologie für Künstliche Intelligenz, das Internet der Dinge, Cloudworking und vielem mehr versorgen, führt er aus.
Bildung und Medizin über große Distanzen hinweg
Kaum zu überschätzen ist für Schroth der Nutzen der smarten Antennen für die Verbesserung der Bildungsinfrastruktur. Zwar könnten Online-Kurse und andere Internetanwendungen „echte“ Pädagogen nicht ersetzen; das Internet könne Schüler und Lehrer aber über größere Distanzen miteinander verbinden. „Vor allem Schulen in entlegenen Orten großer Länder wie China können von diesen Möglichkeiten profitieren“, so Schroth. „Smarte Antennen mit Flüssigkristallen könnten künftig eine stabile, zuverlässige Hochleistungsverbindung zum Internet schaffen. So kann der Unterricht einfach online stattfinden.“
Auch die medizinische Versorgung könnte mit der neuen Technologie deutlich verbessert werden. Stichwort: Telemedizin. „Krankenhäusern in entfernten Regionen könnte der Zugang zu Expertenunterstützung ermöglicht werden – vielleicht sogar ‚Fern-Operationen‘ durchgeführt werden“, heißt es in einer Informationsbroschüre des Technologiekonzerns.
Bislang konzentrieren sich kommerzielle Produkte mit Smart-Antenna-Technologie vor allem auf den Mobilitätssektor. So unterstützt Merck etwa das Darmstädter Start-up ALCAN Systems, das mithilfe der Antennentechnologie vernetzte Mobilität in bislang unterversorgten Märkten realisieren möchte. Auch die Kymeta Corporation im US-amerikanischen Redmond ist ein Merck-Smart-Antenna-Partner und hat eine erste Kleinserienproduktion gestartet.
Merck informiert über die smarten Antennen auch in seinem online verfügbaren Corporate-Responsibility-Bericht.