Die Zukunft der Wirtschaftsprüfung ist digital
Grundsätzlich hat sich die Aufgabe der Wirtschaftsprüfung seit dem 19. Jahrhundert, als sie in Großbritannien aufkam, nicht verändert. Trotzdem erlebt die Branche gerade einen tiefgreifenden Wandel. Digitale Technologien ermöglichen neuartige Dienstleistungen. Damit setzt sich auch die Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft Mazars auseinander.
16.12.2021
Die Zeiten, als Unternehmen ihre Buchhaltung in physisch vorhandenen Grund-, Haupt- und Nebenbüchern niederlegten, liegen weit zurück. Seit 1977 ist die steuerrechtlich notwendige Buchhaltung unter gewissen Umständen auf Datenträgern erlaubt. 1995 folgten die „Grundsätze ordnungsmäßiger DV-gestützter Buchführungssysteme“. Seit Januar 2020 müssen kapitalmarktorientierte Unternehmen ihre Abschlüsse laut Karriere-Portal „High Potential“ digital im „European Single Electronic Format“ (ESEF) veröffentlichen. Somit sind es auch Wirtschaftsprüfungsgesellschaften seit vielen Jahren gewohnt, ihre Testate auf der Basis digital vorliegender Daten zu erstellen. Gleichwohl hat sich seit einigen Jahren der Trend zur Digitalisierung und Automatisierung der Wirtschaftsprüfung verstärkt. Mit aktueller Informations- und Kommunikationstechnik – sogenannter Business Intelligence (BI) – soll sie auf eine ganz neue Ebene gehoben werden.
Die Digitalisierung von Standardprüfungshandlungen bietet Wirtschaftsprüfern laut Sabine Graschitz und Kai-Uwe Marten im österreichischen Wirtschaftsprüfer-Jahrbuch 2020 die Chance, den „Fokus auf komplexe Fragestellungen und kritische Themen“ zu legen. Ein besonderer Mehrwert zusätzlicher digitaler Lösungen liegt dabei im Feld der analytischen Prüfungshandlungen, also dem Erkennen von Zusammenhängen zwischen bestimmten Informationen und Daten, erklären Matthias Frye und Stefan Weddemar im Wirtschaftsprüfungs-Blog von Mazars. Solche Zusammenhänge dienten dann „quasi als Prüfungsnachweis für die Vollständigkeit, Genauigkeit und Richtigkeit von Daten des Rechnungswesens.“ So nutzen Prüfer und Mandanten beispielsweise Software wie Microsoft Power BI und Qlik Sense, um Abweichungen gegenüber erwarteten und auch vergangenen Werten zu entdecken. Dies reduziert den Aufwand deutlich, weil weniger Einzelfälle geprüft werden müssen. Auch die Prüfungssicherheit, ein wesentliches Kriterium bei einer Wirtschaftsprüfung, steigt.
Fast unerschöpfliche Datenquellen
Bei der digitalen, automatisierten Datenanalyse scheint kaum etwas unmöglich zu sein. Sabine Graschitz und Kai-Uwe Marten zählen etwa „Big Data Analytics, Data Mining und Text Mining, Process Mining sowie Robotics und Prozessautomatisierung (RPA)“ als bereits verfügbare Methoden auf. Gerade die Mining-Prozesse bieten diverse Optionen, das seit Ende Mai im Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz geforderte Interne Kontrollsystem (IKS) sowie auch das Risikomanagement effektiver zu prüfen – und zwar jeweils auf Basis der vollständigen Daten, nicht nur stichprobenartig. Mittels Data Mining können Software-gestützt beispielsweise die Umsatzerlöse mit den zugehörigen Rechnungen, Bankauszügen und Lieferscheinen geprüft werden, führen die Osnabrücker Wirtschaftsinformatiker Johannes Langhein, Andreas Kiesow und Oliver Thomas im Tagungsband der Multikonferenz Wirtschaftsinformatik 2018 aus. Word Mining ermöglicht es demnach, Buchungs- oder Vertragstexte nach bestimmten Wörtern auszuwerten. Beim Process Mining wiederum wird ein Geschäftsprozess komplett von der Entstehung bis zur finalen Buchung nachverfolgt, um Unregelmäßigkeiten im Ablauf aufzuspüren.
Beim Thema RPA erscheint langfristig sogar der Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) möglich. Dann könnten selbstlernende Robotersysteme die Kommunikation mit den Mandanten übernehmen und autonom die vorliegenden Daten analysieren. Martin Nay und Daniel Gwerder skizzieren in der Fachzeitschrift „Expert Focus“ einen Prüfungsprozess, durch den die Nutzerinnen und Nutzer mittels textbasierter Chatbots geleitet werden. Mandantenseitig sehen Marten und Graschitz Anwendungsmöglichkeiten von RPA etwa in der automatisierten Bearbeitung von Rechnungen durch Software-Bots, dem Buchen von Kontoauszügen oder der Beurteilung von Verträgen. Der Vorteil von RPA liegt einstweilen aber eher in der Geschwindigkeit, mit der große Datenmengen verarbeitet werden können. Die menschliche Fähigkeit, Sachverhalte kritisch zu beurteilen und vernetzt zu denken, könne KI bislang noch nicht ersetzen, sind sich Nay und Gwerder sicher.
Das unterstreicht auch Timo Husemann, Senior Manager in der Service Line Audit bei Mazars Deutschland. Er nennt einen wesentlichen Vorteil der Prüfungsautomatisierung: „Zukünftig wird es weniger manuelle, repetitive Tätigkeiten geben“. Durch die ständig wachsende Datenmenge bei den Mandanten werde die Kooperation mit Data Scientists immer wichtiger. Wirtschaftsprüfung sei mittlerweile ein Zusammenspiel aus Betriebswirtschaft, Informatik, Statistik und Mathematik. Data Scientists komme dabei die Aufgabe zu, die Ergebnisse des Data Minings zu visualisieren. IT-Fachleute nähmen wiederum die IT-Systeme für die Internen Kontrollsysteme unter die Lupe. Wirtschaftsprüferinnen und -prüfer analysierten die gewonnenen Daten dann und verknüpften sie mit wirtschaftswissenschaftlichem Know-how. Dass der Mensch weiter der entscheidende Akteur im Prüfungsprozess sei, liege auch an den einschlägigen Regelungen für die Wirtschaftsprüfung: So gibt es bislang keinen Prüfungsstandard zur Anwendung von Machine Learning oder zur Prüfung von Robotics Process Automation.
Wirtschaftsprüfer müssen viel von IT verstehen
Die neuen Möglichkeiten stellen Kanzleien und Mandanten vor Herausforderungen, vor allem in zwei Bereichen. Die IT-Infrastruktur auf beiden Seiten muss kompatibel zueinander sein. Unverzichtbar ist eine Datenaustausch-Schnittstelle zum Enterprise-Ressource-Planning-System (ERP) des zu prüfenden Unternehmens. Dies ist mehr als nur eine technische Hürde, betonen Johannes Langhein, Andreas Kiesow und Oliver Thomas in ihrem Beitrag zur Multikonferenz Wirtschaftsinformatik. Immerhin müssen die Kunden die Tätigkeit der Prüfer angemessen wertschätzen, damit sie bereit sind, den Aufwand für die Datenbereitstellung zu leisten. Außerdem benötigen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften für die neuen Werkzeuge speziell ausgebildetes Personal mit besonderen IT-Fachkenntnissen sowie analytischen und mathematischen Fähigkeiten. Genau daran mangelt es aber häufig.
Die Bedeutung speziell geschulten Personals bestätigt Leo Schmidt, Direktor Digital Transformation and Products bei Mazars, in einem Expertengespräch mit Markus Schmidt, CEO und Gründer von QSID Digital Advisory. Als Unternehmen, das eine sehr breite Palette an Prüfungsdienstleistungen anbiete, müsse Mazars „resilient“ gegenüber immer rascheren Marktveränderungen und einer wachsenden Zahl von Kunden mit stark digitalisierten Geschäftsmodellen werden. Dafür benötige man zufriedene, motivierte, junge Mitarbeitende, die sich flexibel auf immer neue Aufgaben einstellen.
Der Aufwand für die Digitalisierung und Automatisierung der Prüfungsprozesse ist also auf der Prüfungs- und der Mandantenseite hoch. Lohnen sich die Anstrengungen, oder sollten sich nur Großunternehmen damit auseinandersetzen? Johannes Langhein, Andreas Kiesow und Oliver Thomas plädieren dafür, dass sich gerade mittelständische Unternehmen ohne eigene interne Revision über ständig aktualisierte Controlling-Daten Wettbewerbsvorteile verschaffen. Denn mithilfe der Digitalisierung könnten sie Fehlentwicklungen früher als andere erkennen. Profitieren würden auch die Wirtschaftsprüfer. Sie könnten ihren Kunden wegen der Entlastung von Routineaufgaben zusätzliche Beratungsleistungen anbieten.