„4.Zero“: Digitale Nachhaltigkeit Made in Germany
Die Digitalisierung und die Nachhaltigkeitstransformation sind für Unternehmen gigantische Herausforderungen. Doch ebenso groß sind die Chancen für Unternehmen, die beides miteinander verbinden. Das Buch „4.Zero – Die ESG-Revolution“ zeigt, warum der Standort Deutschland hier zum Vorreiter werden kann.
13.07.2022
Von Dr. Peter Gassmann, Partner, Global Leader bei Strategy& und ESG-Leader bei PwC Deutschland, und Harald Christ, Unternehmer und Chairman von Christ&Company
Überschwemmungen, Dürreperioden, extreme Temperaturschwankungen, Klimamigration: Die drastischen Folgen des Klimawandels sind schon jetzt immer deutlicher spürbar, auch hierzulande. Und geradezu erschreckend ist folgender Befund der International Energy Agency (IEA): Selbst wenn alle Beteiligten die bei der Klimakonferenz im November 2021 vereinbarten Maßnahmen einhielten, würde sich die Erde bis zum Jahr 2100 um 1,8 Grad Celsius erwärmen. Dass die Nachhaltigkeitstransformation viel zu langsam geht, darauf weist auch der Weltklimarat immer wieder hin.
Unternehmensaktivitäten auf dem Prüfstand
Immerhin: Die Bundesregierung will die deutschen CO2-Emissionen bis 2030 um 65 Prozent gegenüber 1990 reduzieren, spätestens 2045 soll Deutschland klimaneutral sein. Die Europäische Union (EU) will dieses Ziel bis 2050 erreichen. Sie erhöht unter anderem mit der EU-Taxonomie den Druck auf Unternehmen, ebenfalls mehr für den Klima- und Umweltschutz zu tun. Die Taxonomie bewertet, welche Auswirkungen die einzelnen Wirtschaftstätigkeiten auf Umwelt, Gesellschaft und Unternehmensführung (ESG: Environmental, Social, Governance) haben.
Das zwingt viele Unternehmen dazu, ihre Rolle und Aufgaben in der Gesellschaft neu zu definieren. Die damit einhergehenden Herausforderungen sind gewaltig: Immer mehr Unternehmensaktivitäten und -zweige kommen auf den Prüfstand, mitunter sogar ganze Geschäftsmodelle. Auf den Punkt gebracht: Nachhaltigkeit kann für einzelne Unternehmen und sogar ganze Branchen ähnlich disruptiv wirken wie die Digitalisierung. Gleichzeitig birgt die Nachhaltigkeitstransformation enorme Chancen – insbesondere für Unternehmen, denen es gelingt, die Potenziale von Digitalisierung und Nachhaltigkeit gleichermaßen zu nutzen.
Nachhaltigkeit im Fokus von Unternehmen, Beschäftigten und Verbraucher:innen
Einige Unternehmen haben dies bereits erkannt und schreiten voran. In der First Movers Coalition (FMC) haben sich im Jahr 2021 auf Initiative der US-Regierung und des Weltwirtschaftsforums 55 Konzerne dazu verpflichtet, möglichst emissionsfreie Produkte und Dienstleistungen zu nutzen. Zu den „First Movers“ gehören Apple, Microsoft und Amazon, aber auch die Deutsche Post DHL Group, HeidelbergCement und PwC. Und die mehr als 450 Finanzunternehmen aus 45 Staaten, die der Glasgow Financial Alliance for Net-Zero (GFANZ) angehören, wollen die Verwaltung von inzwischen 130 Billionen US-Dollar am Netto-Null-Ziel ausrichten und so den Übergang zu einer CO2-freien Weltwirtschaft beschleunigen.
Dies fordern auch immer mehr Verbraucher:innen und fragen immer häufiger unter anderem danach, unter welchen Bedingungen Unternehmen ihre Produkte herstellen, wie es um deren CO2-Fußabdruck bestellt ist, wie um die Frauenquote und Antikorruptionsregeln. Dass Unternehmen in puncto Umweltauswirkungen, Diversity und Inklusion sowie Gesundheitsschutz transparent agieren, wünschen sich übrigens auch mehr als sieben von zehn Beschäftigte in Deutschland. Das zeigt die aktuelle „Hopes & Fears“-Studie von PwC. Nachhaltigkeit ist also auch ein Recruiting-Thema.
Klimarisiken sind Investmentrisiken
Nachhaltigkeitsfaktoren spielen auch auf dem Kapitalmarkt eine immer größere Rolle. So verlangt die Europäische Bankenaufsichtsbehörde (EBA) von den Finanzinstituten, dass sie über ESG-Risiken berichten; sie sollen den Anteil EU-Taxonomie-konformer Assets an allen Vermögenswerten darlegen, und zwar mit einer neuen Kennzahl, der sogenannten Green Asset Ratio (GAR). Auch für Investor:innen weltweit sind die ESG-Kriterien zunehmend wichtig. Fast 80 Prozent berücksichtigen sie, wenn sie sich für oder gegen ein Investment entscheiden, wie der „Global Investor Survey 2021“ von PwC ergab. Fast die Hälfte der darin Befragten würde sich zudem von Portfolio-Unternehmen trennen, wenn diese ihrer Meinung nach die ESG-Verpflichtungen nicht (ausreichend) erfüllen.
Klimarisiken sind Investmentrisiken – auf diesen Punkt brachte es Larry Fink, Vorstandschef der US-amerikanischen Investmentfirma Blackrock, Anfang 2022 in seinem Brief an die CEOs. Darin schrieb er von einer „tektonischen Kapitalverschiebung hin zu nachhaltigen Anlagen“. Und tatsächlich: Die ESG-Investments institutioneller Investor:innen sind in Deutschland, Österreich und der Schweiz zwischen 2017 und 2019 von 176 auf 576 Milliarden Euro gestiegen.
Kurzum: Nachhaltigkeit gehört auch mit Blick auf den Kapitalmarkt heutzutage in jede Geschäftsstrategie – oder sollte dies tun. Dies in die tägliche Praxis umzusetzen, ist fraglos herausfordernd. Schließlich erfordert dies oftmals die Transformation des gesamten Unternehmens – weg vom Profitstreben in kürzeren Zyklen hin zu einer langfristigen und nachhaltigen Wertschöpfung. Umso wichtiger ist es, die Nachhaltigkeitstransformation strategisch und ganzheitlich anzugehen.
Zum Climate-Tech-Vorreiter mit klarem Fahrplan
Machen wir uns nichts vor: Der Digitalisierungsvorsprung der US-Tech-Giganten und asiatischer Unternehmen ist für deutsche und europäische Unternehmen schier uneinholbar groß. Deshalb meinen wir, dass die größten Chancen für heimische Unternehmen woanders schlummern: Viele deutsche Firmen sind als „Hidden Champions“ in ihren Branchen weltweit führend. Ihr Ingenieurs- und Produktionswissen sollten wir mit Nachhaltigkeit und digitaler Kompetenz kombinieren. Diese Idee steckte ja bereits im Kern im Konzept „Industrie 4.0“: Dabei nutzen Unternehmen die Digitalisierung, um zum Beispiel genauere Daten zu ihren Wertschöpfungsketten zu erhalten, sie zu analysieren und so Prozesse in sämtlichen Unternehmensbereichen, von der Produktion bis hin zu Logistik und zum Versand, zu optimieren. Die Idee dahinter: Wer dank präziser Daten Ressourcen und Material effizienter einsetzt, spart Kosten und schont das Klima.
Genau diese Verzahnung von „Industrie 4.0“-Ansätzen mit „Net Zero“-Zielen nennen wir „4.Zero“. Und sind überzeugt: Hier kann der Standort Deutschland eine weltweite Vorreiterrolle einnehmen. Allerdings nur, wenn es gelingt, die größten Fehler der Digitalisierung bei der Nachhaltigkeitstransformation zu vermeiden. Entscheider:innen fiel es in der Vergangenheit oftmals schwer, den richtigen Startpunkt für ihre digitale Transformation zu finden – manches Unternehmen verlor sich gar in Einzelprojekten. Das darf uns bei der Nachhaltigkeitstransformation nicht passieren! Denn noch kann Deutschland zum globalen „Climate Tech“-Vorreiter werden. Diese Chance zu nutzen – dafür geben wir in unserem Buch ein klares Plädoyer ab: „Deutschland muss alle Technologien der Vierten Industriellen Revolution ideologiefrei auf den Prüfstand stellen und danach bewerten, ob sie uns auf den richtigen Klimapfad bringen und als ,Climate Tech‘- Vorreiter etablieren können. Es sollte das Ziel sein, nicht nur die bisherige Wirtschaft emissionsfrei zu bekommen, sondern sie so umzubauen, dass die Emissionen zum Geschäftsmodell werden. Je stärker der Ausstoß durch Erfindungen ,Made in Germany‘ sinkt, desto lukrativer für das jeweilige Unternehmen und den Standort Deutschland.“
Soll dies gelingen, bedarf es zweifelsohne enormer Anstrengungen aller Beteiligten – und auch enormer Investitionen. Sie belaufen sich sicherlich auf mehrere hundert Milliarden Euro in den kommenden Jahren. Manche Industrien werden zentrale Prozesse verändern, andere ganz neue schaffen müssen. Wie dieser Wandel auf Unternehmensebene gelingt, lässt sich nicht allgemein beantworten. Jedes Unternehmen muss für sich das richtige Gleichgewicht finden zwischen langfristigen, nachhaltigen Zielen und kurzfristiger Performance. Und selbstverständlich ist auch die Regierung gefordert, die passenden Rahmenbedingungen und Anreize zu setzen. Unbedingt notwendig ist ein klarer Fahrplan für diesen tiefgreifenden nachhaltigen Wandel – er wird uns in den kommenden Jahren und Jahrzehnten beschäftigen.
4.Zero bietet Chancen für neue und nachhaltige Geschäftsmodelle
Erfolgsbeispiele für digitale „Climate Tech“-Unternehmen gibt es bereits: Start-ups, die anhand von Satellitenbildern untersuchen, wie sich die Gesundheit der Wälder entwickelt, oder Windkraftanlagen auf hoher See mittels Sensoren aus der Ferne überwachen; andere bieten Software an, mit denen Unternehmen ihre größten CO2-Emissionsquellen ermitteln und managen können; Cloud-Plattformen analysieren datengestützt Zulieferer daraufhin, inwieweit sie die ESG-Kriterien beachten. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen.
Fest steht: „Climate- Tech“-Lösungen sind weltweit gefragt, viele Staaten unterstützen erneuerbare Energien und Energieeffizienz. Und „Made in Germany“ ist nach wie vor ein Qualitätssiegel, die Exportchancen sind enorm. So sieht auch das Umweltbundesamt klare Hinweise auf eine expansive Marktentwicklung bei Anwendungen, die die Umwelt schützen und Emissionen senken. Dieses Segment ist im Jahr 2019 um 2 Prozent gewachsen, während die gesamte Industrie um 1,9 Prozent geschrumpft ist. Dem Umweltbundesamt zufolge erreichte 2019 das Exportvolumen potenzieller Umweltschutzgüter mit 63 Milliarden Euro einen neuen Spitzenwert. Und schon jetzt gehört der Standort Berlin – neben London, Boston, New York City und der Bay Area um San Francisco – zu den „Top 5 Investment Hubs“ weltweit, wie die PwC-Studie „State of Climate Tech“ zeigt. Das jährliche Wachstum der „Climate Tech“-Branche lag zuletzt bei 210 Prozent.
4.Zero ist mit Zahlen belegbare Zukunft
Allein diese Zahlen zeigen: „4.Zero“ ist keine Utopie, sondern Zukunft – und mit Zahlen belegbar. Unternehmen, die das erkennen und möglichst rasch ihr Handeln danach ausrichten, können zu weltweiten Vorreitern werden. Sicher: Die Kosten sind ein Hindernis, die erforderlichen Veränderungen, bisweilen sogar Umwälzungen, ein weiteres. Um sie bestmöglich zu bewältigen, müssen Unternehmen sich für Innovationen und neue, vielleicht sogar ungewöhnliche Kooperationen öffnen. Wer die Chancen von 4.Zero nutzen will, muss sich jetzt auf den Weg machen.