China, die Zwangslager und die Menschenrechte
Im November 2019 veröffentlichte die „New York Times“ die sogenannten „China Cables“, die Menschenrechtsverletzungen und die Existenz von Zwangslagern in der chinesischen Autonomieregion Xinjiang belegen. In einem Interview äußern sich dazu der Präsidenten des Weltkongresses der Uiguren Dolkun Isa, der leitenden ICIJ-Journalistin für das Projekt „China Cables“ Bethany Allen-Ebrahimian sowie der Whistleblowerin Asiye Abdulaheb.
12.05.2020
Die „New York Times“ veröffentlichte im November 2019 einen Leak von über 400 als geheim klassifizierten Dokumenten, welche zuvor dem Internationalen Konsortium Investigativer Journalisten zugespielt wurden. Die als „China Cables“ benannten PDF-Dateien belegen Menschenrechtsverletzungen und die Existenz von Zwangsinternierungslagern in der nordwestchinesischen Autonomieregion Xinjiang. Gebaut wurden diese zur Umerziehung von mehr als einer Million Uiguren, Kasachen und anderen ethnischen Minderheiten. Dazu hier ein Interview mit dem Präsidenten des Weltkongresses der Uiguren Dolkun Isa, der leitenden ICIJ-Journalistin für das Projekt „China Cables“ Bethany Allen-Ebrahimian sowie der Whistleblowerin Asiye Abdulaheb.
Weltweit gibt es schätzungsweise bis zu 20 Millionen Uiguren - etwa die Hälfte lebt in der nordwestchinesischen Autonomieregion Xinjiang. Was können Sie uns über den Alltag der Menschen dort sagen?
Dolkun Isa: Das tägliche Leben der Uiguren in Ostturkestan - auch bekannt als uigurische Autonomieregion Xinjiang - hat sich in den letzten 20 Jahren dramatisch verändert. Jedweder Aspekt des uigurischen Lebens wird vom Verbrechen der chinesischen Regierung gegen die Menschlichkeit bestimmt. Fast aus jeder Familie sind Mitglieder verschwunden, oder werden willkürlich in Internierungslagern und anderen Haftanstalten festgehalten. In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurde die gesamte Region in ein „Freiluftgefängnis“ verwandelt - die Mitglieder des UN-Ausschusses für die Beseitigung der Rassendiskriminierung (CERD) sprechen von einer „Zone ohne Rechte“!
Die Existenz der Uiguren und ihres kulturellen Erbes ist bedroht.
Die in Ostturkestan beheimateten Uiguren und Turkvölker leben in ständiger Angst in Internierungslager verbracht oder anderweitig bestraft zu werden. Darüber hinaus werden die Uiguren daran gehindert, ihre Religion auszuüben, sich an uigurischen kulturellen Aktivitäten zu beteiligen sowie ihre Muttersprache in Schulen und im öffentlichen Raum zu sprechen. Die Existenz der Uiguren und ihres kulturellen Erbes ist bedroht. Uiguren und andere Turkvölker inner- und außerhalb Ostturkestans erfahren ungeheuerliches Leid durch die repressive und menschenfeindliche Politik der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh).
Ende 2019 haben die „China Cables“ die Weltgemeinschaft aufgeschreckt. Was hat sich seitdem geändert? Wie sollten Deutschland, die Europäische Union und die Weltgemeinschaft jetzt reagieren?
Dolkun Isa: Ungeachtet dessen, dass die „China-Cables“, die Qaraqash-Liste sowie weitere kürzlich geleakte Dokumente die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Ostturkestan zweifelsfrei beweisen - geändert hat sich bislang wenig. Zwar haben die Europäische Union, Deutschland und die USA sowohl in den Vereinten Nationen, als auch in bilateralen Gesprächen mit China, die enthüllten Verbrechen zur Sprache gebracht, allerdings sind weitaus umfangreichere Maßnahmen erforderlich. Die chinesische Regierung inhaftiert weiterhin Millionen von Uiguren und andere Turkvölker in Internierungslagern oder schickt sie in „Zwangsarbeitsfabriken“ - verteilt über ganz China. Wenn wir das Leiden von Millionen Uiguren und anderen Turkvölkern beenden wollen, ist eine globale Koalition notwendig. Allerdings werden die mehrheitlich muslimischen, afrikanischen, südamerikanischen und asiatischen Staaten durch Chinas Einfluss und Investitionen zum Schweigen gebracht.
Es kann kein „Business as usual“ mit China geben, solange die chinesische Regierung Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht.
Die chinesische Regierung hat auf die geleakten Dokumente reagiert und diese als „unwahr“ bezeichnet. Die internationale Gemeinschaft muss aufhören, den offensichtlichen Lügen der chinesischen Regierung Glauben zu schenken und konkrete Maßnahmen ergreifen - einschließlich gezielter Sanktionen und einem Verbot von Unternehmen, welche in uigurische Zwangsarbeit involviert sind, oder mit chinesischen Unternehmen zusammenarbeiten, die an der Unterdrückung der Uiguren beteiligt sind. Es kann kein „Business as usual“ mit China geben, solange die chinesische Regierung Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht und Millionen unschuldiger Menschen in Internierungslagern festhält.
Sie waren 21 Jahre auf der Flucht. Erst 2018 wurde die gegen Sie erlassene „Red Notice“ gelöscht. Wie fühlt es sich an, zwei Jahrzehnte lang im Ausnahmezustand zu leben? Ist Deutschland jetzt sicher für Sie?
Dolkun Isa: Die von der chinesischen Regierung gegen mich erlassene „Red Notice“ war unrechtmäßig - sie war politisch motiviert, denn es existierten keinerlei Beweise! Allerdings hat sie für lange Zeit mein Leben sehr schwierig und unsicher gemacht, ich wurde in Südkorea inhaftiert und sollte nach China abgeschoben werden. Darüber hinaus hinderte mich die Red Notice an der Ausübung meiner Menschenrechtsarbeit, da Visa im letzten Moment annulliert wurden. In Italien wurde ich beim Betreten des Senats aufgrund der Red Notice verhaftet - dank der Bundesregierung wurde ich jedoch nicht nach China abgeschoben. Ohne das Engagement der deutschen Regierung wäre ich gewaltsam nach China zurückgeschickt worden, wäre verschwunden oder getötet worden. Die uigurische Gemeinschaft in Deutschland und ich sind der deutschen Regierung sehr dankbar für den Schutz und den sicheren Hafen hierzulande!
Dennoch ist das Leben in Deutschland und auf der ganzen Welt für Uiguren zunehmend unsicher geworden.
Dennoch ist das Leben in Deutschland und auf der ganzen Welt für Uiguren zunehmend unsicher geworden. Der chinesische Einfluss weltweit wächst und selbst in Deutschland wird die uigurische Diaspora von der chinesischen Regierung überwacht und belästigt. So werden beispielsweise unsere Demonstrationen überwacht und Fotos nach China übermittelt. Erheben wir unsere Stimme gegen die Menschenrechtsverbrechen, werden unsere Verwandten in Ostturkestan festgenommen und bestraft. Ich habe beide Elternteile unter mysteriösen Umständen verloren - meine Brüder werden noch immer vermisst. Unlängst hat die chinesische Propaganda die Außenansicht des WUC-Hauptquartiers in München veröffentlicht - offensichtlich um uns einzuschüchtern. Im Januar 2020 bin ich während einer Trauerfeier in München von den Verwandten eines Amtsinhabers der KPCh körperlich angegriffen worden. Zuvor forderten sie mich auf, ihren Verwandten von der KPCh nicht mehr öffentlich zu kritisieren und bedrohten indirekt meine in Ostturkestan lebende Familie.
Nochmal: Wir sind der deutschen Regierung für ihre Unterstützung zu tiefstem Dank verpflichtet - jedoch fühlen sich die Uiguren aufgrund der ständigen Bedrohung und dem langen Arm der chinesischen Regierung nirgendwo auf der Welt sicher!
Die 2019 veröffentlichten „China Cables“ belegen laut ICIJ die Existenz von Zwangsinternierungslagern für Uiguren in China. Wann haben Sie das erste Mal von den Lagern erfahren? Wie hat alles begonnen?
Bethany Allen-Ebrahimian: Die Öffentlichkeit hat zum ersten Mal durch einen Beitrag des Radiosenders „Radio Free Asia“ (RFA) von den Internierungslagern in Xinjiang erfahren. Das war Ende 2017 und es wurde erstmals die Bezeichnung „Lager“ verwendet. Allerdings hatte zu diesem Zeitpunkt niemand eine Vorstellung vom Umfang der Internierungsmaßnahmen. Radio Free Asia berichtete lediglich von „einigen Zehntausend“ Inhaftierten. Erst die Auswertung von Satellitenbildern der Region Xinjiang im Frühjahr 2018 durch die unabhängigen Wissenschaftler Shawn Zhang und Adrian Zenz veränderte die öffentliche Wahrnehmung. Zenz schätzte, die Lager könnten bis zu einer Million Menschen aufnehmen - später revidierte er die Zahl auf 1,5 Millionen.
Erst die Auswertung von Satellitenbildern der Region Xinjiang im Frühjahr 2018 durch die unabhängigen Wissenschaftler Shawn Zhang und Adrian Zenz veränderte die öffentliche Wahrnehmung.
Die Dokumente - die dem ICIJ zugespielt wurden - stammen aus dem Jahr 2017, als die Internierungslager in Xinjiang in Betrieb genommen wurden.
Anfänglich waren es nur Gerüchte und Augenzeugenberichte - erst die „China Cables“ belegen laut ICIJ eine der größten Menschenrechtsverletzungen der Gegenwart. Warum hat die Welt so spät von den Lagern erfahren?
Bethany Allen-Ebrahimian: Ich bin nicht sicher, ob es fair ist zu behaupten, dass allein die „China-Cables“ die Existenz der Lager bewiesen haben. Es existierten bereits umfangreiche Beweise. Neben der Veröffentlichung durch „Radio Free Asia“ und den Auswertungen von Shawn Zhang und Adrian Zenz haben mehrere westliche Nachrichtenagenturen ihre Reporter nach Xinjiang geschickt, um über das „Verschwinden“ ganzer Stadtteile zu berichten und mit den Menschen dort zu sprechen. Entscheidend war zudem, dass einige sehr mutige Menschen nach ihrer Freilassung und Flucht ins Ausland begannen, ihre Geschichten zu erzählen. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als das Internationale Konsortium Investigativer Journalisten die China Cables bereits veröffentlicht hatte.
Durch die Veröffentlichung des ICIJ hat die Welt jedoch erstmals Dokumente von den „Tätern“ selbst zu Gesicht bekommen.
Durch die Veröffentlichung des ICIJ hat die Welt jedoch erstmals Dokumente von den „Tätern“ selbst zu Gesicht bekommen. Wir haben Anweisungen für den Betrieb von hochgesicherten Einrichtungen zur Masseninternierung und Umerziehung einer ethnischen Gruppe im Original-Wortlaut der Kommunistischen Partei Chinas veröffentlicht - das ist der Verdienst der China Cables.
Mit Veröffentlichung der China Cables hat die „New York Times“ am 16. November eine Bombe platzen lassen. Sie waren es, die dem ICIJ die Dokumente zugespielt hat. Wie sind Sie an die Informationen gelangt?
Asiye Abdulaheb: Die Informationen stammen von einem uigurischen Paar aus den Niederlanden. Das Paar hat mir 24 vertrauliche Dokumente übergeben, die das Internationale Konsortium Investigativer Journalisten 2019 zur Veröffentlichung brachte. Hinzu kam die im selben Jahr veröffentlichte „Qaraqash“-Liste.
Sie selbst haben sich erst vier Wochen nach Veröffentlichung durch die „New York Times“ als Whistleblowerin und somit als Quelle der China Cables zu erkennen gegeben. Warum zu diesem Zeitpunkt?
Asiye Abdulaheb: Während der Zusammenarbeit mit dem ICIJ gab es zahlreiche aufsehenerregende Vorfälle. Im September 2019 wurde mein Ex-Mann vom „Ministerium für Staatssicherheit der Volksrepublik China“ kontaktiert und über Freunde aus Urumqi nach Dubai gelockt. In Dubai angekommen, drückten die Mitarbeiter des Ministeriums meinem Ex-Mann einen USB-Stick in die Hand und forderten ihn auf, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Er solle den USB-Stick „einfach mal in den Laptop stecken“ - was mein Ex-Mann dann auch tat. Auf dem USB-Stick befanden sich jede Menge Informationen über mich und andere uigurische Bürgerinnen und Bürger, die allesamt in den Niederlanden leben.
Die chinesische Staatssicherheit hat meinem Ex-Mann angeboten, als Spion für sie tätig zu werden.
Um es auf den Punkt zu bringen: Die chinesische Staatssicherheit hat meinem Ex-Mann angeboten, als Spion für sie tätig zu werden. Nach der Rückkehr aus Dubai hat mir mein Ex-Mann alles erzählt. Wir beschlossen, zur Polizei zu gehen und noch am selben Tag Kontakt mit den niederländischen Behörden aufzunehmen. Voraussetzung war, dass meine Identität geheim bleibt. Doch die chinesische Regierung hatte zu diesem Zeitpunkt bereits herausgefunden, dass sich die vertraulichen Dokumente in meinem Besitz befanden - eine Offenlegung wollte sie unbedingt verhindern! Mit diesem Wissen sah ich mich nicht länger dazu gezwungen, meine Identität zu verbergen.
Geboren und aufgewachsen sind Sie in Urumqi. Welche Erfahrungen haben Sie mit Benachteiligung und Diskriminierung gemacht und was muss passieren, damit die Welt die Uiguren in China nicht wieder vergisst?
Asiye Abdulaheb: Ich bin in der Stadt Urumqi geboren und aufgewachsen. In meiner Kindheit habe ich immer wieder miterlebt, wie sehr die Uiguren von der Gesellschaft ausgegrenzt wurden. Meiner Meinung nach begeht die chinesische Regierung Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese Verbrechen werden jedoch von Seiten der Regierung vertuscht. Im 21. Jahrhundert wird in Friedenszeiten ein ganzes Volk in „Konzentrationslager“ gesteckt. Die Welt sieht einfach nur zu - niemand handelt. Ich bin bitter enttäuscht darüber!
Das „Wuhan-Virus“ wurde vor der Welt geheim gehalten - dasselbe passiert auch mit Millionen von unterdrückten Uiguren.
Die inhaftierten Uiguren haben weder die Möglichkeit ihr Leben zu retten, noch die Verbrechen anzuklagen. Das „Wuhan-Virus“ wurde vor der Welt geheim gehalten - dasselbe passiert auch mit Millionen von unterdrückten Uiguren. Das ist pures Gift. Ich hoffe daher sehr, dass die Welt aus den Lügen der chinesischen Regierung ihre Lehren ziehen wird. Wir können als Völker nicht mehr vor den Verbrechen eines Staates schweigen. Denn nach 1945 wurde eine internationale Institution für Menschenrechte ins Leben gerufen - wir alle kennen die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen.
Wir befinden uns derzeit in einer Krise, die ebenso eine Krise für unsere gemeinsamen Werte ist. Ich hoffe sehr, dass die Welt endlich hinsehen und sich für das uigurische Volk einsetzen wird. Ich danke Ihnen!
Vielen Dank für die Interviews!
Die Interviews entsatden im Rahmen der Serie:Initiative Gesichter der Demokratie. Das Interview führte Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter des Friedens | Faces of Peace.